Die Baselbieterin Mel Goldoni sprang von Windrädern, Hochhäusern und Felskanten. Bis sie sich entschied, mit dem Basejumpen aufzuhören. In der Luft fühlt sie sich bis heute am wohlsten. Ein Gespräch über den Tod, den freien Fall und die Chemie im Kopf.
Eine Extremsportlerin stellt man sich auf den ersten Blick anders vor. Zum Interview bringt Mel Goldoni in einer Tasche ihr schneeweisses Malteser-Hündchen mit, sie spricht mit Zurückhaltung und wählt ihre Worte vorsichtig. Dabei sind ihr Adrenalin und Risiko bestens vertraut.
Auf dem Rücken trägt sie, mit schwarzer Farbe tätowiert, zwei grosse Flügel. Sie fühlt sich dort am wohlsten, wo es vielen Menschen graut: alleine im freien Himmel. Knapp 1000 Mal hat sie sich schon in die Tiefe gestürzt, von Brücken, Hochhäusern, Klippen, aus Flugzeugen und Helikoptern. Wer das überleben will, sagt sie, müsse vor allem eines: streng sein zu sich selbst.
Mel Goldoni, wie fühlt sich das an, der Sprung ins Nichts?
Am stärksten ist dieses Gefühl beim Basejumpen, also beim Sprung von festen Plattformen. Zuerst bereite ich mich vor, kontrolliere noch einmal das Material. Kurz vor dem Sprung verschwinden Vergangenheit und Zukunft und es gibt nur noch den Moment. Ich denke nichts mehr, alles wird ruhig. Und dann springst du ab. Das Adrenalin setzt ein und damit eine völlige Klarheit.
Lässt es sich mit etwas vergleichen?
Vielleicht mit einem Orgasmus. Es ist pure Chemie, ein Rausch aus Endorphin.
Viele Fallschirmspringer und Basejumper beschreiben ihren Sport als Sucht. Könnten Sie sich vorstellen, je damit aufzuhören?
Solange ich nicht muss, nein. Ich springe weiter Fallschirm und habe neu das Gleitschirmfliegen für mich entdeckt. Mit Basejumpen habe ich vor zwei Jahren aufgehört. Es ist mir zu viel geworden. Ich vermisse es sehr, aber es geht nicht mehr.
Was wurde Ihnen zu viel?
Der Tod ist bei diesem Sport von Anfang an ein Thema. Es sind viele gestorben, die mir sehr nahe waren. Zuerst ist mein Mentor Ueli Gegenschatz beim Sprung vom Orangetower in Zürich tödlich verunglückt. Ein Jahr später starb ein weiterer Begleiter von mir und weitere nahe Menschen folgten ihnen. So viele Tote unter meinen Freunden ertrage ich nicht, daran gehe ich kaputt. Vielleicht bin ich dafür zu sensibel. Andere können das, ich kann es nicht.
Sie haben damit abgeschlossen?
Ich habe die Ausrüstung noch. Aber wenn ich ehrlich bin, sagt mir mein Bauchgefühl: Es ist zu Ende. Das war lange Zeit sehr schmerzhaft. Ersetzen kann diese Liebe aber nichts, nur die Zeit heilt den Schmerz über den Verlust.
Mit dem Fallschirmspringen begann sie 2007, zwei Jahre später mit Basejumping. Seither machte sie 600 Fallschirm- und 200 Basesprünge.
Goldoni gewann an der ProBase Beach Challenge in Griechenland den zweiten Platz und wurde von verschiedenen Marken gesponsert. Das Basejumping hat sie vor zwei Jahren aufgegeben.
Welche Rolle spielt Angst für Sie?
Ich sah andere, die vor dem Sprung sehr nervös waren. Da spürte ich, was Angst ist. Selber kenne ich das nicht. Respekt ja, aber Angst nicht. Ich habe mit Fallschirmspringen begonnen, hatte gute Lehrer, sprang zuerst vom Ballon und von Brücken. So tastete ich mich langsam heran.
Wie weit lässt sich ein Sprung kontrollieren?
Das richtige Bauchgefühl ist entscheidend. Ob ich mich selber in der richtigen Verfassung fühle, merke ich bereits, wenn ich aufstehe. Du musst das Material im Griff haben und das Wetter muss stimmen. Ich hatte immer das Gefühl, ich habe die Gefahr unter Kontrolle. Vielleicht war das etwas naiv. Denn ganz lässt sich ein Flug nie kontrollieren, es bleibt immer ein kleines Restrisiko. Irgendwann hätte es vielleicht auch mich getroffen.
Woher kommt diese Faszination für das Springen?
Ich war von der Höhe immer angezogen. Wenn meine Mutter mich früher als Kind suchte, musste sie immer nach oben schauen. Meistens war ich irgendwo in einer Baumkrone oder auf einem Klettergerüst. Als Teenager sah ich «Gefährliche Brandung», einen Film übers Fallschirmspringen, und dachte, irgendwann will ich das auch. Einige Jahre später überredete mich ein Freund zu einem Tandemsprung. Da merkte ich, das ist es. Aber diesen Mann an meinem Rücken, den wollte ich in Zukunft nicht mehr dabeihaben. Ich wollte selber die Kontrolle.
Haben Sie Situationen erlebt, bei denen es gefährlich geworden ist?
Einmal bin ich bei Lauterbrunnen in einer Tanne hängen geblieben, nachdem sich mein Schirm nicht schön geöffnet hatte. Ich hatte zu viel riskiert. Alles wurde sehr langsam und ich überlegte mir innerhalb von zwei Sekunden, wie ich aus dieser Situation wieder herauskomme. Was das Hirn in dem Moment leisten kann ist extrem. Zeit verliert da völlig an Bedeutung, überhaupt, wenn du diese Sportart machst.
Und auch anderes im Alltag?
Das Springen ist eine sehr gute Lebensschule. Es hilft, vieles gelassener zu nehmen.
Wie hat es Sie verändert?
Ich lernte, mehr auf meine eigenen Gefühle zu vertrauen und so zu handeln, wie es für mich stimmt. Dadurch lebe ich mehr im Moment.
Braucht es für diese Sportart auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit?
Viele Leute urteilen sehr schnell und stecken einen in eine Schublade. Doch wer ein selbstbestimmtes Leben führt, muss kein Egoist sein. Diese Freiheit macht mich zu einem glücklicheren Menschen. Das strahle ich aus und kann das Gefühl mit anderen teilen. Anders als jemand, der nur tut, was von ihm erwartet wird und frustriert durchs Leben geht.
«Wer ein selbstbestimmtes Leben führt, muss kein Egoist sein. Diese Freiheit macht mich zu einem glücklicheren Menschen.»
Firmen wie Red Bull nutzen den Extremsport zur Massenunterhaltung. Woher kommt die Faszination?
Viele Menschen wollen insgeheim ein freieres Leben führen, sie tun es aber nicht. Vielleicht weil ihnen der Mut fehlt, weil sie zu angepasst oder zu bequem sind. Immer wieder sagen mir Leute, dass sie meine Art zu leben bewundern. Meine Antwort ist immer dieselbe: Das kannst du auch.
Was für Eigenschaften braucht es zum Springen?
Machen kann es jeder. Wie lange du lebst, hängt aber von deiner Persönlichkeit ab. Du musst sehr streng sein mit dir selber. Wer jede Warnung in den Wind schlägt und nicht auf sich und andere hört, macht es nicht lange.
Ist dieser Sport auch eine Realitätsflucht?
Im Gegenteil, wer springt, ist noch viel mehr in der Realität. Es schärft deine Sinne und du bist völlig klar. Du erlebst grösstes Glück und gleichzeitig immer wieder den Tod, der ja etwas Alltägliches ist. Auch bei uns. Nur blenden wir ihn im Alltag meistens aus. Und beim Springen bist du selbstbestimmt. Für alles, was du tust, bist du voll und ganz selbst verantwortlich.
Wird der Alltag neben diesen extremen Erlebnissen nebensächlich?
So sehe ich das nicht, der Alltag gehört auch zum Leben. Gerade dieser ruhigere Gegensatz hält mich im Gleichgewicht.