Der mexikanische Schriftsteller Amado Nervo besuchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehrmals Basel. Liebevoll und romantisierend, aber auch mit einer Prise Humor beschreibt er in seinen Chroniken die Stadt. Am 24. Mai, vor 95 Jahren, ist er in Montevideo (Uruguay) gestorben.
Die verschlungenen Wege der Altstadt müssen es ihm besonders angetan haben. «Es hat Gassen, die so eng sind, dass sich die Häuser küssen», stellt er fest. Allgemein gleichen die Schilderungen des mexikanischen Schriftstellers und Diplomaten Amado Nervo (1870–1919) einer Liebeserklärung an Basel: «An einer Krümmung des heiligen Rheins, befindet sich Basel, die Stadt die ich von allen, die ich gesehen habe, am meisten liebte, mit Ausnahme von – cela va sans dire – Paris», hält er in seinen Chroniken fest.
Vordenker des lateinamerikanischen Modernismo
Wer sich nun in lokalpatriotischen Stolz bestätigt sieht, wird beim Weiterlesen der Reiseberichte enttäuscht sein: Amado Nervo lobte Zürich, die Stadt im «Herzen Europas» als nicht minder schön. Seinem ausdrucksstarken Stil treu bleibend, hat Nervo für so manche besuchte Gegend ein paar liebevolle oder nahezu kitschige Kosenamen zur Hand. Luzern und dem Vierwaldstättersee widmet er in seinem Lyrikband «El éxodo y las flores del camino» (1902) gar ein Gedicht. Dennoch geben seine bislang unübersetzen Chroniken Aufschluss darüber, was dem mexikanischen Dichter bei seinen Basel-Aufenthalten während der Belle Époque besonders aufgefallen ist.
In seinen «Crónicas» lobte Amado Nervo Basel in den höchsten Tönen. (Bild: Casa-Museo Unamuno (Universidad de Salamanca))
Amado Nervo, der vor 95 Jahren, am 24. Mai 1919, gestorben ist, gilt als einer der wichtigsten Vertreter des lateinamerikanischen Modernismo. Wie sein nicaraguanischer Dichterkollege Rubén Darío, welcher diese literarische Strömung mitbegründet hatte, unternahm auch er ausgedehnte Reisen nach Europa. Zuerst arbeitete er als Korrespondent in Paris, später als Botschaftssekretär in Madrid.
Grand Tour in die «Alte Welt»
Für viele lateinamerikanische Intellektuelle seiner Generation galt Europa als wichtiger Referenzpunkt. Die meisten von ihnen begaben sich entweder als Diplomaten oder Journalisten, aber auch als Touristen auf eine Art Grand Tour in die «Alte Welt». Ihr Fokus war dabei auf Paris gerichtet. Die Grossstadt wurde als Zentrum der Moderne und der künstlerischen Innovation betrachtet. Nervo bereiste aber auch andere Gegenden – unter anderem Italien, Deutschland, England und die Schweiz.
In zwei kurzen Texten widmet er sich Basel. Im Sommer 1900 schrieb er für die Zeitung «El Mundo» von seinen Impressionen. Er gelangte damals von der Weltausstellung in Paris, wo er als Korrespondent tätig war, in die Schweiz. Später erzählt er auch in seinen «Crónicas» unter dem Titel «Bâle y Boecklin» von zwei weiteren Reisen nach Basel.
Als «flüssigen Smaragd» oder Opal bezeichnet Nervo den Rhein immer wieder.
Der Rhein scheint ihn besonders inspiriert zu haben: Blumige Bezeichnungen für den Strom nehmen in den Chroniken viel Platz ein. Wie es für den modernistischen Dichter typisch ist, verwendet er dabei Bezeichnungen aus der Mineralogie: Als «flüssigen Smaragd» oder Opal bezeichnet er Basels Hausfluss immer wieder. Auch die Fähren blieben beim Mexikaner nicht unbemerkt: «So überqueren die Basler den Rhein, ohne sich die Mühe zu machen, die grossen Brücken aufzusuchen», meint Nervo und beschreibt vergnügt, wie er vom Boot aus sein Hand ins «geweihte Wasser» des Rheins tauchen konnte.
Die Kleinkariertheit der Basler
Nervo beschränkt sich aber nicht auf poetisch überhöhte Schilderungen der städtischen Idylle. Kurz nach der Ankunft sah sich der Mexikaner mit der Kleinkariertheit seines Gastgebers konfrontiert. Während einer Sommernacht logierte er im Kleinbasel, «Bâle pequeño», wie er es nennt, in Begleitung eines befreundeten Künstlers. Nach der Abgabe der Koffer im Hotel wollten die beiden noch zu nächtlicher Stunde den Rhein bestaunen. Das Vorhaben scheiterte jedoch an der Engstirnigkeit des Hoteliers: Empört erklärte er ihnen, dass nach 21 Uhr niemand die Gaststätte verlassen dürfe und er forderte die beiden Lateinamerikaner auf, gefälligst schlafen zu gehen.
Die historischen Persönlichkeiten der Stadt kannte Nervo bestens. Mit Erasmus von Rotterdam, Paracelsus, Oekolampad sowie Friedrich Nietzsche und Arnold Böcklin nimmt er dabei immer wieder Bezug auf grosse Namen.
Besonders Böcklins mythische Welt wurde vom modernistischen Dichter begeistert aufgenommen. Die «dickleibigen Tritone, welche den durchsichtigen Meerjungfrauen im Krachen der Wellen den Hof machen», die «tragischen jovialen Zentauren» und die «grünäugigen Wassernixen» blieben Nervo nach dem Betrachten Bildern des Schweizer Künstlers in lebhafter Erinnerung.
Stadt der Katzen
Nebst den Fabelwesen schienen ihn auch die Katzen in Basel zu faszinieren. Seinen Beschreibungen zufolge muss es in den Sommernächten nur so von den Tieren, in deren Augen die «Irrlichter der Friedhöfe funkeln», gewimmelt haben. Er sah sie in Scharen auf den Dächern herumtigern. «Basel ist in der Nacht das Paradies der Katzen», stellt er fest.
Die Stadt taucht auch später in den Zeugnisse Nervos wieder auf: Auf einer Postkarte an den spanischen Schriftsteller und Philosophen Miguel de Unamuno ist das Basler Münster abgebildet. Sie ist auf den Mai 1909 datiert.
Postkartengruss an den Schiftstellerkollegen Miguel de Unamuno (1909) (Quelle: Casa-Museo Unamuno, Universidad de Salamanca). (Bild: Casa-Museo Unamuno (Universidad de Salamanca))
Dieses Dokument wirft Fragen auf, da ansonsten keine Belege für eine spätere Reise nach Basel existieren. Zu jener Zeit war er als Botschaftsangestellter in Madrid eingespannt, wie auch der mexikanische Literaturwissenschaftler und Nervo-Experte Gustavo Jiménez Aguirre einräumt. Er erklärt es sich so, dass Nervos Chef möglicherweise ein Auge zugedrückt hat. Daher konnte sich der Schriftsteller vielleicht gelegentliche Ausflüge nach Paris erlauben – schliesslich lebten dort Angehörige seiner geliebten Muse Ana Cecilia Luisa Dailliez.
Eventuell schaffte er es von dort aus nochmals nach Basel oder er schrieb sie von einem anderen Ort aus. Da kein Poststempel sichtbar ist, lässt sich nicht rekonstruieren, wo sie abgesendet wurde. Es bleibt also zumindest die Möglichkeit bestehen, dass der Dichter derart begeistert von der «Stadt der Katzen» war, dass er sie heimlich auch später nochmals aufsuchte – oder zumindest eine Postkarte von Basel aufbewahrte.