Weltweit wachsen die Städte. Ohne Alternativen zu Sand und Stahl stösst der Bauboom aber an Grenzen. Forscher der ETH Zürich entwickeln aus Bambus und Pflanzenölen einen alternativen Baustoff, der die Lücke schliessen soll.
Tausende Menschen verlassen jeden Tag ihre Dörfer und ziehen in Städte. Die Hoffnung auf ein modernes Leben und den Zugang zur globalisierten Daten- und Warenwelt treibt sie an. Die Menschen brauchen neue Häuser. Strassen, Schienen und Brücken müssen gebaut werden. Dafür werden täglich zig Tausend Tonnen an Sand, Stahl und anderen Rohstoffen verbraucht.
Ein Ende dieses Prozesses ist nicht absehbar. Im Gegenteil: In vielen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wachsen immer mehr Städte zu Mega-Metropolen heran.
«Der Städtebau der Zukunft findet vor allem in den Schwellenländern statt», sagt Dirk Hebel, Assistenzprofessor für Architektur und Konstruktion an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. «Er wird aber durch immer knapper werdende Baustoffe wie Sand und Stahl allein nicht zu bewältigen sein.»
Bald schon Bambusbrücken?
Hebel ist Professor im Forschungsprojekt Future Cities Laboratory, das die Zürcher Universität in Singapur zur Entwicklung von Alternativen für den Städtebau von morgen unterhält. Der weltweite Hunger nach Baumaterialien lässt den Sand knapp werden. Die Herstellung von Stahl durch das Schmelzen von Eisenerz verschlingt enorme Mengen Energie und setzt jährlich Millionen Tonnen von Kohlendioxid frei. Und der Druck auf die Rohstoffe kommt nicht nur aus den Schwellenländern – auch in Europa müssen viele Strassen und Schienenwege saniert werden.
Bambus muss nicht immer nach Bambus aussehen.
Doch es gibt eine traditionsreiche Alternative, die die Lücke füllen könnte. Die Zürcher Forscher sehen Städte der Zukunft aus Bambus entstehen. «Einige Bambusarten weisen die gleiche Trag- und Zugfestigkeit wie Stahl auf», sagt Hebel. Sein Team hat in den Labors ein Material aus extrahierten Bambusfasern entwickelt, das Holz oder Stahl im Hochbau ersetzen kann. Bald schon könnten Bambusbrücken über breite Flüsse oder Bambus-Hochhäuser mit einem solchen Stoff möglich werden.
Heimische Wertschöpfung statt Import
Singapur wurde bewusst als Sitz des Forschungsprojekts gewählt, der Stadtstaat liegt zentral in einer Region, die für den Bambuseinsatz der Zukunft prädestiniert ist. «Die meisten neuen Megastädte entstehen dort, wo auch der Bambus zu Hause ist», sagt Hebel. Die Rohstoffbasis vor Ort bietet den Ländern auch wirtschaftliche Perspektiven. Anders als heute müssten die Staaten Asiens und Lateinamerikas einen Teil der Baustoffe nicht mehr importieren, sondern könnten ihn vor Ort gewinnen, was der heimischen Wertschöpfung zugute komme.
Das hat es früher schon gegeben. Etwa in Kolumbien: Dort erzählt die Geschichte, wie sich die Einheimischen vor 500 Jahren gegen die spanischen Eroberer zur Wehr setzen – mit einer Ausrüstung, die die mit eisernen Schwertern und metallenen Schutzpanzern vorrückenden Europäer nicht kannten.
Guadua ist genau so stabil wie herkömmliche Materialen – das will Architekt Andres Bäppler beweisen.
Die indigenen Stämme lebten nicht nur in Häusern aus Bambus, sondern nutzten die einheimische Pflanze auch zur Herstellung von Lanzen und Rüstungen, bauten damit Fallen mit messerscharfen Spitzen, denen viele Eindringlinge zum Opfer fielen. Während die Spanier Jahre später den Bambus nach Europa einführten, kamen sie auf dem Rückweg mit Steinen und Stahl ins Land – Materialen, die die Immobilienwelt in Südamerika seitdem prägen. Der Bambus geriet in Vergessenheit.
Ein gefundenes Fressen für Termiten
Andres Bäppler will das ändern. Zusammen mit seiner Frau, die in Frankfurt am Main als Architekturprofessorin arbeitet, hat der Architekt vor zehn Jahren am Rand der kolumbianischen Millionenstadt Calí das Sozialprojekt «Schule fürs Leben» gegründet. Die Häuser dieser Einrichtung bestehen fast vollständig aus der in Südamerika verbreiteten Bambusgattung Guadua – Klassenräume, die Kantine, selbst die Basketballkörbe auf dem Sportplatz. «Wir wollen den Nachweis erbringen, dass man mit Guadua genauso stabil und hochwertig bauen kann wie mit herkömmlichen Materialien – und deutlich günstiger», sagt Bäppler. «Das ist eine wirtschaftliche Chance für das ganze Land.»
Trotz der präkolumbianischen Geschichte oder gerade deshalb – noch gilt der Bambus vielen nicht nur in Kolumbien als Baustoff der Armen. Das kommt nicht von ungefähr, denn in der Vergangenheit sind Bambushäuser immer wieder eingestürzt, weil das Süssgrasgewächs in unbehandelter Form ein gefundenes Fressen für Bakterien, Termiten und Schädlinge aller Art ist.
Sechs Monate wachsen, vier Jahre aushärten
«Die Probleme mit Bambus sind auf falsche Behandlung des Materials zurückzuführen», sagt ETH-Forscher Hebel. Wie jedes Holz darf Bambus nicht einfach im Regen stehen. Er braucht Dächer aus anderen Materialien, die ihm als Schutz dienen. Grundsätzlich müssten die Rohre nach der Ernte etwa 20 Tage trocknen, erklärt Bäppler. Anschliessend lagern sie für mehrere Tage in einer Lösung aus Wasser und dem Holzschutzmittel Borax, einem natürlich vorkommenden Mineral, das aus Salzseen gewonnen wird. Das Salz macht den Bambus für die Bakterien ungeniessbar.
«Durch die Behandlung mit Borax wird Bambus so langlebig wie herkömmliche Produkte der Bauindustrie», so Architekt Hebel. Mit 50 bis 80 Jahren entspricht die erwartete Lebensdauer derjenigen von konventionellen Baustoffen. Der Baum ist zudem in der Pflege relativ anspruchslos. In Kolumbien braucht er sechs Monate, um mit 25 Metern ausgewachsen zu sein, dann muss er vier Jahre aushärten, bevor er geerntet werden kann.
Auch ökologisch sei der Bambus ein Gewinn, betont Forstwirtin Adriana Betancourt, die für das kolumbianische Schulprojekt in Calí die Plantagen betreut und wieder aufforstet. «Der Guadua ist für den Gewässerschutz ein Segen.» So wird die Ebene, in der die Stadt zwischen zwei Bergketten liegt, von mächtigen Flüssen durchzogen, die in der Regenzeit dort über die Ufer treten, wo die traditionellen Bambushölzer abgeholzt wurden. Der Grund: «Die Bäume können in ihren Stämmen bis zu einer Höhe von drei Metern Wasser speichern und regulieren so auf natürliche Weise das Hochwasser.»
Die Harzbehandlung verändert das Aussehen des Bambus. Damit soll er aus der Öko-Ecke geholt werden.
Trotz der vielen Vorteile des Bambus fehlt es noch an vorzeigbaren Referenzobjekten im Grossstadtformat. Um das zu ändern, haben die Zürcher Forscher selbst Hand angelegt. Das von ihnen entwickelte Material besteht zu 90 Prozent aus extrahierten Bambusfasern und zu zehn Prozent aus Epoxidharzen, die aus Pflanzenölen gewonnen wurden.
Die Zürcher setzen auch beim Zusatzstoff bewusst auf «grüne» Rohstoffe. Die Epoxidharze werden nicht aus Erdöl, sondern aus Rizinusöl hergestellt. «Durch die Mischung beider Komponenten wird der Bambus haltbar gemacht», erklärt Hebel, «sieht aber optisch nicht mehr aus wie klassischer Bambus.» Damit soll er bewusst aus der Öko-Ecke herausgeholt werden, um seine Akzeptanz zu erhöhen. Hebel und sein Team arbeiten seit diesem Sommer gemeinsam mit der Eidgenössischen Materialprüfungsanstalt Empa an der weiteren Optimierung des Baustoffs und an ersten Anwendungen im Bausektor.
Mit Pilzkulturen zum Bio-Ziegel
Doch der Bambus soll nicht nur eine Alternative zum Stahl werden. Hebel sucht auch nach Möglichkeiten, mit dem Süssgrasgewächs den Einsatz von Beton und damit Sand zu minimieren. Er ist dabei auf eine Innovation einer Firma aus New York gestossen, bei der Pilzkulturen aus einem organischen Material wie Sägespänen oder Bioabfällen einen Bio-Ziegel produzieren. «Der Organismus wächst so lange, bis ihm Licht und Wasser entzogen werden. Dann stirbt er, und man kann das Material für den Bau benutzen.»
Vor wenigen Wochen wurde auf dem Gelände des PS1 in New York – einem Ableger des Museums für moderne Kunst – ein futuristischer Turmbau aus den weissen Bio-Ziegeln errichtet. «Wir sind gespannt, wie sich das Projekt entwickelt und das Material in einigen Monaten aussehen wird. Zeigen sich diese Baustoffe als stabil, könnte man die Pilzstrukturen auch mit Bambusmaterial versorgen», blickt Hebel voraus. In eine Zukunft, in der die Häuser statt aus Stahl und Beton komplett aus Bambus erbaut werden.