Begegnung mit Picasso

Eine persönliche, nicht veröffentlichte Erinnerung des Journalisten Bernhard Scherz, der 1967 mit dem Fotografen Kurt Wyss Picasso besuchte.

Bernhard Scherz (rechts) zeigt Picasso Bilder vom Bettlerfest in Basel, an dem für die Werke des Künstlers gesammelt wurde. Links Jacqueline Picasso und Franz Meyer, Direktor des Kunstmuseum. (Bild: Kurt Wyss)

Eine persönliche, nicht veröffentlichte Erinnerung des Journalisten Bernhard Scherz, der 1967 mit dem Fotografen Kurt Wyss Picasso besuchte.

Es war kurz nach der Abstimmung, mit der die Stadt Basel einen 6-Millionen-Franken-Kredit zum Ankauf zweier Werke von Pablo Picasso gutgeheissen hatte. Nach dieser glücklich verlaufenen Volksabstimmung drängte es uns, die Gedanken und Gefühle desjenigen kennenzulernen, der die Bilder, um die es beim Plebiszit ging, vor ­einem halben Jahrhundert gemalt hatte.

Auf gut Glück fuhren wir nach Mougins, wo sich Picasso in einer weitläufigen Villa verschanzt hielt. Was wir kaum zu hoffen gewagt hatten, geschah mit der grössten Selbstverständlichkeit: Picassos junge Frau Jacqueline lud uns zum Tee. Es war seit Jahren das erste Mal, dass Picasso Pressevertreter einliess, und meines Wissens hat er auch danach kein Interview mehr gegeben.

Wir erwarteten den Künstler in einem Atelier, in dem seine neuesten Werke wie Koffer am Bahnhof zwischen den Natursteinwänden standen. Als er eintrat, hatten wir vergessen, dass er möglicherweise mit «Meister» anzureden ist, dass er mit ­seinen bald 90 Jahren vielleicht nicht Neugier, ­sondern nur Respekt heischt, dass ihn bereits ein Hauch von Unerreichbarkeit umwittert. Er begrüsste uns wie Freunde, und wir fühlten uns wie Freunde.

Ein feiner Witz

«Ja, Sie haben hier so viele Bilder um sich», sagte er mit einem Akzent, der deutlich den Spanier verriet. «Sie fühlen sich vielleicht fast wie Gefangene inmitten all dieser Bilder. Wie wäre das eigentlich, wenn man in einem Gefängnis mit lauter Bildern sitzen würde? Bilder an allen Wänden der Zelle? – Ach ja, das Gefängnis würde dann zu seinem Gegenteil: keine Wände, lauter Fenster. Man könnte überall in die Bilder hineinspazieren.»

Er liebt es, seine Einfälle spielerisch aneinanderzuketten, und oftmals lauert hinter seinen Worten ein feiner Witz: «Warum ich meine Pariser Ausstellung nicht besucht habe? – Ich wollte doch da nicht stundenlang Schlange stehen!»

In braunen Hausschuhen, gelben Socken und einem zartblauen Pullover führte er uns durch sein Atelier. Wir verschoben Bilder, stellten eine Staffelei um, trugen Scheinwerfer … Picasso wirkte ausgeruht und voller Unternehmungslust. Das Einzige, was auf sein hohes Alter schliessen liess, war die Fürsorge, mit der ihm seine Frau schliesslich den bequemsten Stuhl zurechtrückte: «Komm, setz dich doch!»

Zwischen Atelier und Salon blätterte Picasso in Stapeln von Bildern. Sein Haus wirkte auf uns wie ein Wohnwagen zwischen zwei Etappen einer Entdeckungsfahrt. Hier wimmelte es von Türen, Fenstern, Durchblicken und Trophäen. Auf Sofas, Stühlen, Böden, Kisten, Staffeleien und Kommoden standen Bilder aus sämtlichen Epochen des kaum fassbaren Gesamtwerkes dieses Mannes, der oft als «grösster Künstler unserer Zeit» gewertet wird.

Ein Eroberer auf dem Campingplatz seiner Phantasie

Dazwischen liegt verstreut, was immer Picasso gerade beschäftigt. Im Salon erfasst zum Beispiel ein einziger Blick eine weisse Taube, die in ihrem Käfig flattert, ein Tennisracket, das an einem Gemälde lehnt, eine winzige Nachbildung eines alten Grammophons, eine Porzellankatze, einen Fernsehapparat, einen unter dem Tisch versteckten Klingelknopf, ein Glockenspiel, eine Türe, die sich vor lauter Bilderstapeln nicht mehr öffnen lässt … Und doch herrscht in diesem Durcheinander so viel Ordnung, dass man zögert, irgendetwas zu verschieben: Picasso scheint die Dinge, die ihm in die Finger kommen, immer so zu arrangieren, dass sie überraschende Gedankenbrücken bilden. In diesem Haus wird jede Tischplatte zum Spielbrett.

Wir hatten befürchtet, einen alten Mann in seiner Fluchtburg zu stören, und wir fanden einen Eroberer auf dem Campingplatz seiner Phantasie. Spielerisch posierte er vor der Kamera, plauderte im selben Atemzug von Käsesorten, Malerei und Kindern. Er liebt den Augenblick, wenn am frühen Morgen der erste Schlüssel umgedreht wird, wenn das Leben erwacht. «Lieben Sie ihn mehr als den Augenblick, in dem die letzte Türe abends zugeschlossen wird?» – «Es sind die beiden Momente, die ich liebe. Ich liebe alles, was weitergeht.»

«J’aime tout ce qui continue» – das ist vielleicht das Leitmotiv dieses Geistes, der ständig Schranken sucht, um sie zu überspringen. Und mitten in einer Welt, die es gewohnt ist, sich die Dicke ihrer Mauern in Rappen, Prozenten und Bilanzen auszurechnen, geht Picasso heute ungerührt auf neue Abenteuer aus: In seinem Atelier in Mougins soll jede Nacht das Licht brennen. Jacqueline Picasso: «Er geht mit jedem seiner Bilder einen Schritt voran, und augenblicklich malt er unentwegt.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 18.01.13

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