Bei der Russischen Revolution war der Oktober rot

1917 sorgte der Machtkampf in Russland wiederholt für Schlagzeilen in den Zeitungen. Der Sturz von Zar Nikolaus II. im März war erst der Anfang.

Lenin und Trotzki (in Uniform) im Kreise von Genossen auf dem Roten Platz in Moskau im Jahr 1919.

Nach zweieinhalb Jahren Erstem Weltkrieg hatten die Leute die Schnauze voll. Auf den Schlachtfeldern starben die Soldaten zuhauf, die Lebensmittel waren knapp, die Teuerung zum Verzweifeln. Der Unmut war enorm und trieb die Menschen auf die Strasse.

Am 27. Februar 1917 forderten aufgebrachte Demonstranten von der Duma, dem russischen Parlament, Massnahmen zur Verbesserung der katastrophalen Versorgungslage. Kurz darauf, am 3. März, entwickelte sich ein Streik in einer Petersburger Rüstungsfabrik zu einem Generalstreik.

In den folgenden Tagen breiteten sich die Demonstrationen und Streiks auf weitere Städte aus. Arbeiter und Soldaten begannen sich in eigenen Versammlungen, den Sowjets, zu organisieren und weitere Schritte zu diskutieren.

Der Zar dankt ab

Gleichzeitig zeigten sich innerhalb der bisherigen Führungselite Russlands tiefe Risse. Die Duma wollte eine andere Regierung, der Zar wollte die Duma auflösen – das Gezerre endete damit, dass Zar Nikolaus II. am 16. März abdanken musste, nachdem die Duma und der Petersburger Arbeiterrat tags zuvor übereingekommen waren, dass der Zar gehen müsse und die Duma eine Provisorische Regierung einsetzen solle. Diese verkündete weitgehende demokratische Rechte und versprach eine Verbesserung der Versorgungslage.

Allerdings konnte die Provisorische Regierung – zunächst unter der Leitung von Georgi Jewgenjewitsch Lwow, dann unter Alexander Fjodorowitsch Kerenski – nicht einfach schalten und walten, wie es ihr beliebte. Grossbritannien und Frankreich wollten nicht, dass ihr Bündnispartner Russland einen Separatfrieden mit Deutschland schloss. Denn ein solcher hätte es Deutschland ermöglicht, Truppen aus dem Osten abzuziehen und an der Westfront einzusetzen.

Innenpolitisch sah sich die Provisorische Regierung mit den Arbeiter- und Soldatenräten konfrontiert – ein neuer Machtfaktor, der nicht einfach ignoriert werden konnte.

Lenins April-Thesen

Lenin, der Anfang April aus der Schweiz angereist war, legte den Finger genau auf diesen Punkt.

In einem Thesenpapier, das als April-Thesen in die Geschichte einging, konstatierte er: «Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Russland besteht im Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewusstseins und der ungenügenden Organisiertheit des Proletariats der Bourgeoisie die Macht gab, zur zweiten Etappe der Revolution, die die Macht in die Hände des Proletariats oder der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen muss.»

Entsprechend verlangte Lenin: «Aufklärung der Massen darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzige mögliche Form der revolutionären Regierung sind.» Lenin wollte keine «parlamentarische Republik», sondern «eine Republik der Sowjets der Arbeiter, Landarbeiter und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von unten bis oben».

Kampf um die Macht

Natürlich kann man sich fragen, ob Lenins Thesen für den weiteren Verlauf der Russischen Revolution von derartiger Bedeutung waren, dass sie hier erwähnt werden müssen. Dabei gilt es zu bedenken: Lenin war keine Einzelmaske, sondern einer der führenden Köpfe der Bolschewiki und damit einer organisierten Bewegung, die eine zentrale Rolle in der Revolution spielen wollte.

Und Lenin liess nicht locker, bis er seine Mitstreiter von seinen Thesen überzeugt hatte. Dabei spielte ihm auch die weitere Entwicklung in die Hände. Denn der Provisorischen Regierung gelang es nicht, die allgemeine Situation zu verbessern, geschweige denn den Krieg zu beenden. Unterdessen wuchs der Einfluss der Bolschewiki und anderer revolutionärer Kräfte in den Sowjets.

Am Ende waren gegen 500 Tote und Verletzte zu beklagen, Lenin musste abtauchen.

Während des Sommers nahm der Kampf um die Macht in Russland immer offenere Formen an. Im Juli gab es – offenbar ohne Zutun Lenins – einen erfolglosen Versuch linker Milizen, die Provisorische Regierung zu stürzen. Ein Minister wurde vorübergehend als Geisel genommen, es kam zu Schiessereien. Am Ende waren gegen 500 Tote und Verletzte zu beklagen. Lenin musste abtauchen, Kerenski wurde Ministerpräsident.

Im September war die Provisorische Regierung erneut Ziel eines Putschversuchs. Dieses Mal wurde er von General Kornilow unternommen. Kornilow  sah in den Arbeiter- und Soldatenräten eine Gefahr für Russland und wollte gegen sie vorgehen. Als Kerenski ihn darauf seines Postens enthob, versuchte Kornilow erfolglos, Kerenski zu stürzen. Letzteres sollte erst dem Militärrevolutionären Komitee des Petersburger Sowjets unter Leo Trotzki gelingen.

Die Revolution im Kino

In der Schweizer Presse hatte die Berichterstattung über die Russische Revolution ihren festen Platz. Anders als heute waren die Tageszeitungen damals noch richtige «Bleiwüsten» und mussten ohne Fotografien auskommen. Wer Bilder der Ereignisse und der Akteure sehen wollte, war auf andere Medien angewiesen.

Kinoinserat für das Herbstmessepublikum.

Die junge Filmindustrie nutzte dies, indem sie neben Spielfilmen schon bald auch Dokumentaraufnahmen in die Kinos brachte. So zeigten die beiden Basler Lichtspielhäuser Odeon und Greifen in ihrem grossen «Sensations-Messprogramm» vom 7. bis 11. November 1917 neben dem amerikanischen Spielfilm «Sibirien» («Das gewaltigste und ergreifendste Filmwerk der Gegenwart» in fünf Akten) «hochaktuell: die erste authentische Aufnahme von der russischen Revolution in Petersburg und Moskau im Februar und März 1917».

Dabei bekam das Publikum neben Auftritten verschiedener Minister auch «grosse Demonstrationen» oder «zahlreiche Autos mit Maschinengewehren» in Moskaus Strassen zu sehen. Und mit dem «Kampf um die Oberhand zwischen Kerenski und Kornilow» hatte sogar ein Ereignis, das nur zwei Monate zurücklag, Eingang in die Dokumentation gefunden.

Der Sturz der Provisorischen Regierung

Während in Basel die Geschehnisse der ersten Phase der Revolution über die Leinwand flimmerten, begann in Russland deren zweite. In der Nacht vom 7. auf den 8. November liess das Militärrevolutionäre Komitee des Petersburger Sowjets unter Leo Trotzki die wichtigsten Einrichtungen der Stadt besetzen, stürzte die Provisorische Regierung ohne Blutvergiessen und rief die Machtübernahme durch die Sowjets aus.

Dabei hofften Lenin und Trotzki, dass die Arbeiterklasse anderer Länder – namentlich Deutschlands – schon bald dem russischen Beispiel folgen würden. Bezüglich der Schweiz hegten die beiden in dieser Hinsicht keine grossen Erwartungen.

Der Triumph des «nationalen Blocks» in Basel

Allerdings hatten sich in den Kriegsjahren auch in unserem Land die sozialen Spannungen verstärkt. Teuerung und wiederholter Militärdienst ohne Kompensation des Verdienstausfalls machten vielen zu schaffen. Dies wurde deutlich, als die Sozialdemokratische Partei für den 30. August 1917 zu Protestversammlungen in mehreren Schweizer Städten aufrief.

In Basel folgten 15’000 Menschen ihrem Aufruf. Angesichts dieses Massenaufmarsches erhofften sich die Sozialdemokraten Stimmengewinne bei den Nationalratswahlen im November. Wohl unter dem Eindruck der Russischen Revolution schlossen sich für die eidgenössischen Wahlen in Basel die vier bürgerlichen und rechtsbürgerlichen Parteien zu einem «nationalen Block» zusammen.

Cartoon aus dem «Basler Vorwärts» aus dem Jahr 1917.

Der Wahlkampf wurde von beiden Seiten mit harten Bandagen geführt. Dabei gelang es den Sozialdemokraten nicht, den «nationalen Block» zu zertrümmern. Der «Block» errang sechs der sieben Nationalratssitze, während sich die Sozialdemokraten mit einem zufriedengeben mussten.

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