Die Bibel ist ein dickes Buch. Wer darin blättert, kann leicht den Überblick verlieren. Daher hat Pfarrer Müller uns seinerzeit im Konfirmationsunterricht das Inhaltsverzeichnis der Lutherbibel auswendig lernen lassen, und zwar in Form eines Gedichts, das ein deutscher Amtsbruder ums Jahr 1800 verfasst hatte. Das spröde Opus beginnt mit den Worten:
«In des Alten Bundes Schriften merke dir an erster Stell Mose, Josua und Richter, Ruth und zwei von Samuel.» In diesem Stil geht die Aufzählung der Schriften der Propheten, Evangelisten und Apostel weiter, bis am Schluss die Ermahnung erfolgt: «Endlicht schliesst die Offenbarung das gesamte Bibelbuch. Mensch gebrauche, was du liesest, dir zum Segen, nicht zum Fluch.»
Für deutsche Leser
Pfarrer Müller und wir Konfirmanden gehörten der evangelisch-reformierten Kirche an, und für diese ist die Bibel von zentraler Bedeutung. Denn in den Augen der Reformierten enthält die Bibel nicht nur das Wort Gottes, sondern sie ist zugleich der Prüfstein, mit dessen Hilfe die kirchlichen Praktiken einer kritischen Prüfung unterzogen werden konnten.
Um diesen Prüfstein benutzen zu können, musste man allerdings der griechischen und der lateinischen Sprache mächtig sein. Dies sollte sich erst im Zeitalter der Reformation ändern. Im September 1522 erschien das Neue Testament in der Übersetzung Martin Luthers auf Deutsch, 1534 lag auch Luthers Übersetzung des Alten Testaments vor. Dabei konnte sich Luther auch auf die Ausgabe des Neuen Testaments stützen, die Erasmus 1516 bei Johannes Froben in Basel hatte drucken lassen.
Während Luther den Gläubigen des deutschen Sprachraums den Zugang zu den biblischen Schriften in ihrer Muttersprache ermöglichte, bot Erasmus dem gelehrten Publikum eine philologisch fundierte Ausgabe des griechischen Textes und eine präzise lateinische Übersetzung. Beide Männer stellten auf ihre Art und Weise das Deutungsmonopol Roms und des Klerus infrage. Dies in einer Zeit, in der Zukunftshoffnungen mit apokalyptischen Ängsten im Widerstreit lagen.
Unterschiedliche Akteure
Lutheraner, Zwinglianer, Calvinisten: Das Zeitalter der Reformation kannte unterschiedliche Akteure. Die Ausstellung «Reformationen – der grosse Umbruch am Oberrhein» des Dreiländermuseums Lörrach macht zudem deutlich, dass sich diese nicht auf ein paar grosse Namen reduzieren lassen. Vielmehr bestand ein weites Netzwerk von Reformatoren, das der Reformation in den verschiedenen Städten unterschiedliche Gesichter gab und ihr auch zu unterschiedlichen Zeiten zum Durchbruch verhalf.
In Basel beispielsweise war das 1529 der Fall. Dies, nachdem es am 9. Februar jenes Jahres zu einem Bildersturm gekommen war, in dessen Verlauf zahlreiche Kunstwerke in Basler Kirchen zerstört und die altgläubigen Ratsmitglieder aus der Stadt vertrieben wurden.
Das Himmelreich auf Erden
Die kirchlichen Reformatoren waren nicht die Einzigen, die sich auf die Bibel beriefen. 1525 taten es ihnen die badischen Bauern gleich, die ihre Forderungen in Memmingen in zwölf Artikeln zusammenfassten. Neben freier Pfarrerwahl und Abbau der ungerechten Lasten ging es ihnen vor allem um die Abschaffung der Leibeigenschaft.
Um ihre Forderungen durchzusetzen, zog ein Aufgebot von ihnen vor die Tore Freiburgs. Ein anderer Bauernhaufen nahm die Burg Rötteln kampflos ein und zerstörte die Archive. Dem Basler und dem Strassburger Rat gelang es schliesslich, den Badischen Markgrafen und die Bauern an den Verhandlungstisch zu bringen und den Konflikt zu entschärfen.
Andernorts verlief der Bauernkrieg blutiger. Der eine oder andere der Aufbegehrenden hoffte gar auf das Himmelreich auf Erden, Luther verfasste seine «Ermahnungen zum Frieden» und schlug sich dann mit seiner Schrift «Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern» auf die Seite der Fürsten.
In Frieden leben
Bibelfestigkeit und Menschenliebe gehen nicht zwangsläufig Hand in Hand. Das zeigte sich auch während der Reformation. Zürcher Reformatoren liessen Mitchristen ersäufen, weil sie gegen die Kinds- und für die Erwachsenentaufe waren.
Calvins Genfer Gerichtsbarkeit liess Michel Servet bei lebendigem Leib verbrennen, weil er nicht an die Dreifaltigkeit Gottes glaubte und Calvin in ihm ein Werkzeug des Teufels sah.
Die Ermahnung an die Gläubigen, die Bibel zum «Segen, nicht zum Fluch» zu lesen, ist gut und recht. Noch besser ist aber, dass im säkularen Staat die Macht der Kirchen aller Art so weit zurückgebunden ist, dass Anders- und Ungläubige in Frieden leben können.
Reformationen. Dreiländermuseum Lörrach, bis 8. April 2018.