Die Basler Kinder lernen bereits in der ersten Klasse die Ernährungspyramide kennen. Doch einige Ärzte kritisieren, Prävention würde Essstörungen fördern. Der Kantonsarzt ist anderer Meinung.
Jedes vierte Kind in Basel-Stadt ist zu dick, das haben die jährlichen ärztlichen Untersuchungen in der Schule ergeben. Die medizinischen Dienste fanden das «alarmierend» und haben deshalb im Jahr 2007 ein «Aktionsprogramm für ein gesundes Körpergewicht» gestartet.
Ganze 12 Projekte finden sich da aufgelistet, mit Namen wie «Burzelbaum», «Znüni Box» oder «Munterwegs». Einige davon sind Teil des Unterrichts in der Schule.
Viel Gemüse, wenig Kuchen
Schon in der ersten Klasse lernen die Kinder im Projekt «Rüebli, Zimt und Co.» die Ernährungspyramide kennen (siehe Artikelbild). Die Pyramide zeigt den Kindern, wovon sie viel zu sich nehmen sollten (Wasser, Obst, Gemüse) und wovon leider nur wenig (Schoggi, Süssgetränke).
Im Projektbeschrieb heisst es: «Den Kindern wird der Unterschied zwischen gesundem und ungesundem Znüni bewusst gemacht.»
Die Kinder dürfen im Unterricht aber auch mit geschlossenen Augen Gewürze erraten und lernen in der zweiten Klasse, wie Haferflocken und andere Nahrungsmittel entstehen.
Zu gesund ist ungesund
Das Ziel dieser Aktionen ist ein löbliches: gesündere Kinder, die sich bewusst ernähren.
Doch will man das wirklich? Ist es für ein Kind gut, wenn es sich bereits mit sieben Jahren Gedanken macht, ob ein Nahrungsmittel gesund ist oder nicht?
Zu gesund ist nämlich ungesund. Wer zu sehr auf seine Ernährung achtet, riskiert, eine Essstörung zu entwickeln.
Lesen Sie dazu: Essen Sie schon krankhaft gesund? Testen Sie sich selbst
Dagmar Pauli, Chefärztin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes der Uni Zürich, ist deshalb sehr skeptisch gegenüber solchen Ernährungsprogrammen in der Schule. Sie kritisierte im «Beobachter»: «Kindergartenkinder und Primarschüler sollen sich nicht mit Nährwerttabellen und gesundem Essen auseinandersetzen», sagt Pauli. Viel wichtiger sei es, mit den Kindern zusammen zu kochen und zu essen.
Je privilegierter, desto gesünder
Ausserdem ist fraglich, ob «Rüebli, Zimt und Co.» die richtigen Kinder erreicht. Die Mehrheit der übergewichtigen Kinder hat einen Migrationshintergrund, wie das Monitoring der schulärztlichen Zahlen aus Basel, Bern und Zürich in Zusammenarbeit mit der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz zeigt.
Das hat nicht unbedingt mit der kulturellen Herkunft zu tun, sondern mit dem Bildungshintergrund und dem Einkommen. Die Forschung zeigt: Je besser die Eltern ausgebildet sind, desto gesünder leben die Kinder.
Doch der Schuss könnte auch nach hinten losgehen: Kinder, die bereits von den Eltern ständig hören, dass sie mehr Rüebli und Äpfel essen müssen, werden auch noch im Unterricht mit «gesunden Botschaften» bombardiert und kriegen bei jedem Stück Schoggi ein schlechteres Gewissen. Und diejenigen Kinder, die daheim Pommes frites und Chips essen, tun das weiterhin, weil die Eltern es ihnen vorleben.
Der Erfolg spricht dafür
Offenbar sind diese Sorgen unbegründet und die Präventionsprogramme ein Erfolg. Thomas Steffen ist Kantonsarzt und leitet die medizinischen Dienste in Basel: «Wir erreichen über die Schule 95 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Basel», sagt er.
Die Folgen sind positiv: Seit dem Schuljahr 2005/2006 hat sich der Anteil übergewichtiger Kinder auf 17,3 Prozent reduziert, wie das erwähnte Monitoring zeigt.
Für diese positive Entwicklung sind vor allem die Kindergartenkinder (–4 Prozent) sowie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund (–2,6 Prozent) verantwortlich. «Das zeigt, dass sich unsere Bemühungen vermutlich gerade im Kindesalter und im Migrationsbereich besonders günstig auswirken», sagt Steffen.
Gleichzeitig fühlen sich aber viele Jugendliche zu dick, obwohl sie normalgewichtig sind. Das zeigt eine Basler Jugendbefragung aus dem Jahr 2015. Fast ein Drittel der normalgewichtigen Kinder und Jugendlichen gaben an, dünner sein zu wollen. Es lässt sich zwar nicht abschätzen, ob das zunimmt, in den früheren Berichten wurden die Jugendlichen nicht zur eigenen Körperwahrnehmung befragt.
Aber Schülerbefragungen der WHO bestätigen, dass die Zahlen der Schweizer Kinder und Jugendlichen, die abnehmen wollen, obwohl sie es nicht nötig haben, sei Jahren konstant hoch sind.
Gesund oder ungesund, ist nicht die Frage
Steffen räumt ein, dass es zwar tatsächlich Schülerinnen und Schüler gibt, die gerne aussehen würden wie die dünnen Models oder die muskelbepackten Männer im Fernsehen.
Doch laut Steffen nehmen die Präventionsprogramme darauf Rücksicht. «Wir diskutieren über unrealistische Körperideale und unnütze Diäten», sagt er. Ziel ist, dass die Kinder realisieren, dass es perfekte Körper nicht gibt – und dass Bilder oft am Computer bearbeitet werden.
Ein bisschen Schoggi darf sein
Gerade deswegen sei es tatsächlich nicht sinnvoll, Kindern beizubringen, zwischen gesunden und ungesunden Lebensmitteln zu unterscheiden. Es gibt nicht gute und schlechte Speisen: «Alles ist von der Menge abhängig.» Sich ausgewogen zu ernähren heisst, viele verschiedene Lebensmittel zu essen.
Ein Kind darf also weiterhin Schoggi essen, einfach nicht als Hauptgang, sondern als leckeres Dessert nach einem Teller mit Gemüse und Nudeln. «Um das den Kindern zu zeigen, ist die Lebensmittelpyramide ideal», ist Steffen überzeugt.