Essen Sie schon krankhaft gesund? Testen Sie sich selbst

Viele Leute achten heutzutage sehr auf gesunde Ernährung. Aber Achtung: Wer zu gesund sein will, tut sich selber nichts Gutes.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Viele Leute achten heutzutage sehr auf gesunde Ernährung. Aber Achtung: Wer zu gesund sein will, tut sich selber nichts Gutes. Hier erfahren Sie, wann es so weit ist.

Jugendliche achten heutzutage extrem darauf, gesund zu essen. Das haben Gespräche mit fünf Jugendlichen gezeigt. 

So sagte die 15-jährige Giulia der TagesWoche: «Grundsätzlich ist ‹weniger› essen besser, aber man muss aufpassen: Zu wenig ist auch nicht gut.»

Und Lena sagte: «Gutes Essen sollte auf keinen Fall fettig, sondern frisch und selbst gekocht sein.» Sie merke sofort, wenn sie zugenommen habe, und mässige sich dann.

Obendrauf verzichtet die Mehrheit der befragten Schülerinnen und Schüler auch auf Fleisch, aus Rücksicht auf die Tiere.

Lesen Sie die Berichte der Jugendlichen hier: Heiliger Bimbam, was essen die Jungen gesund heute

Das klingt positiv. Schliesslich schützt ausgewogene und vegetarische Ernährung vor Übergewicht und Diabetes – und vermindert das Risiko für Herzkrankheiten, Krebs und Nierenkrankheiten. 

Essen als Religion

Doch zu gesund ist auch nicht gesund. Erika Toman, Psychologin und Leiterin des Kompetenzzentrums für Essstörungen und Adipositas in Zürich, warnte 2014 gegenüber dem Konsumentenmagazin «Gesundheitstipp»: «Fast jeder hat heute das Gefühl, noch gesünder, ethischer oder kalorienärmer essen zu müssen.» Und Bettina Isenschmid, Chefärztin im Spital Zofingen AG, sagte: «Manche entwickeln dabei regelrecht einen missionarischen Eifer.»

Für diesen Zwang, gesund zu essen, gibt es sogar bereits einen Fachausdruck, wenn auch einen umstrittenen: Orthorexie. Laut einer Umfrage der Universität Zürich leiden 28 Prozent der Schweizer Bevölkerung daran.

Gehören Sie auch zu den Menschen, die zu sehr ans Essen denken? Machen Sie den Test.

Nicht alle Forscher erkennen die Diagnose Orthorexie an, doch die Forscher der Universität Zürich und auch die Arbeitsgemeinschaft für Essstörungen nehmen das gestörte Essverhalten ernst, da es im schlimmsten Fall in einer Magersucht enden kann.

Genuss weg, Freunde weg

Man erkennt das gestörte Essverhalten daran, dass Betroffene stundenlang über ihre Ernährung nachdenken und Mahlzeiten bis ins Detail vorausplanen.

Dabei sind sie so sehr auf gesunde Nährstoffe und Kalorientabellen fixiert, dass sie nicht mehr spüren, ob sie Hunger haben und worauf sie Lust haben. Gegessen wird, was als «gesund» gilt, beispielsweise Vitamine, Mineralien und gesunde Fette, aber Zucker, Salz oder tierische Fette sind tabu.

Das wirkt sich auch auf das Umfeld aus: Die Familie nervt sich, und der Betroffene meidet je länger je mehr den Kontakt zu Freunden, aus Angst, dann etwas «Ungesundes» essen zu müssen.

Das Paradoxe daran: Die Leute denken, dass sie sich mit besonders gesundem Essen etwas Gutes tun. 

Sie wollen Spaghetti? Essen Sie Spaghetti!

Doch keine Sorge, auch wer bereits dem Gesundheitswahn verfallen ist und fleissig Vitamine zählt, kann wieder lernen, ein natürliches Hungergefühl zu entwickeln. Der beste Weg dazu: Essen Sie, worauf Sie Lust haben. Das muss ja nicht unbedingt gleich Fast Food oder Fertigpizza sein, aber ansonsten gilt: Kochen Sie, worauf Sie Lust haben.

Sie haben Lust auf Spaghetti? Machen Sie Spaghetti. Haben Sie Lust auf Süsses? Dann essen Sie Süsses zum Dessert.

Verbote bringen nichts. Wenn Sie gelesen haben, Kohlenhydrate seien schädlich, Milchprodukte ungesund und Gluten des Teufels: Glauben Sie es nicht. Morgen lesen Sie wieder das Gegenteil.

Sind Sie noch unsicher, ob Sie selber zu sehr auf gesundes Essen fixiert sind? Dann machen Sie den Test. Er stammt vom amerikanischen Arzt Steven Bratman. Wenn Sie fünf und mehr Fragen mit Ja beantworten, ist Ihr Essverhalten zwanghaft.

Test: Leiden Sie an Orthorexie?

  1. Denken Sie mehr als 3 Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?
  2. Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus? 
  3. Ist Ihnen wichtiger, wie viel Nährstoffe Ihr Essen enthält, als wie gut es schmeckt? 
  4. Haben Sie das Gefühl, je gesünder Sie sich ernähren, desto schlechter sei Ihre Lebensqualität?
  5. Sind Sie in letzter Zeit strenger mit sich geworden? 
  6. Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung? 
  7. Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben, weil sie zu wenig gesund sind? 
  8. Treffen Sie wegen Ihrer Essgewohnheiten seltener Freunde und Familie als früher? 
  9. Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrer Diät abweichen?
  10. Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle, wenn Sie sich gesund ernähren?
Wie ernähren Sie sich?
Wir haben bereits mit Jugendlichen über Essen geredet, aber uns interessieren die Essgewohnheit aller Altersgruppen. Schreiben Sie uns unter lifestyle@tageswoche.ch oder hinterlassen Sie einen Kommentar unter dem Artikel. Wir freuen uns.

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