Christian Huber: «Psychisch kranke Menschen werden gemieden»

Die Gesellschaft hält Menschen mit psychischen Erkrankungen auf Distanz – auch aus Angst. Christian Huber, Leitender Arzt der Erwachsenen-Psychiatrischen Klinik der UPK Basel, spricht über Vorurteile und Möglichkeiten, diese zu überwinden.

Christian Huber erklärt, warum es nur in Einzelfällen nötig ist, gegenüber psychisch Erkrankten auf Distanz zu gehen.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Christian Huber, wir sind eigentlich eine aufgeklärte Gesellschaft. Warum ist unser Umgang mit psychischen Krankheiten immer noch mit so vielen Vorurteilen behaftet? 
Sicher leben wir in einer recht aufgeklärten Gesellschaft, und trotzdem gibt es nach wie vor eine ernst zu nehmende Stigmatisierung von Menschen, die psychisch erkrankt sind – und das hat ganz menschliche Gründe. Es ist ein Grundmechanismus von Personengruppen, sich gegenüber anderen Gruppen abzugrenzen.

Warum werden psychisch kranke Menschen überhaupt als solche wahrgenommen?

In der Psychiatrie verhält es sich ein bisschen anders als bei Menschen, die sichtbare Stigmata tragen, etwa Menschen mit anderer Hautfarbe oder mit körperlichen Gebrechen. Anders ist es in der Psychiatrie, weil es meist keine unmittelbar auffallenden Merkmale gibt. Wenn Menschen akut erkrankt sind, verhalten sie sich vielleicht anders oder sind im Kontakt nicht so, wie man das von anderen Mitmenschen kennt. Aber normalerweise ist der Grund für die Stigmatisierung nicht von aussen sichtbar. Es geht zum Beispiel um Zuschreibungen von Geschichten, die man gehört hat.

Warum halten sich die Vorurteile so hartnäckig?

Weil es Einzelfälle gibt, in denen sich das Vorurteil bestätigt, und weil selektive Wahrnehmung das verstärkt. Auch führen Vorurteile zum Meiden von Kontakt, so dass sich wenige Gelegenheiten ergeben, sie zu widerlegen. Es gibt sicher einzelne Menschen mit psychischen Problemen, die in bestimmten Phasen ihres Lebens für sich oder andere gefährlich sind. Vor allem, wenn sie – begleitet etwa von einer Drogenintoxikation – nicht steuerungsfähig, in ihrer Willensbildung beeinträchtigt oder psychotisch sind. Sie haben in dieser Situation eine abweichende Wahrnehmung von der Realität, haben oft Angst und fühlen sich zusätzlich bedroht. In solchen Einzelfällen macht es natürlich Sinn, ein bisschen auf Distanz zu gehen. Aber nur in dieser konkreten Situation.

Wir machen aber auch dann einen Schritt zurück, wenn keine reale Bedrohung vorliegt.

Ja, das Problem ist, dass sich diese Distanz auf alle, die man als Mitglieder dieser Gruppe identifiziert, ausweitet. Sei es aufgrund der Diagnose, weil sie einem einfach komisch vorkommen oder schon nur, weil sie in einer Klinik in Behandlung waren. Diese Menschen werden gemieden.

Wie äussert sich diese Ausgrenzung?

Es gibt verschiedene Lebenssituationen für die Betroffenen, wo diese Ausgrenzung stattfindet. Man bekommt keine Wohnung, man kriegt keine oder nur eine Arbeitsstelle mit schlechteren Vertragskonditionen und wird in der Schule bei gleicher Leistung anders beurteilt. Im Freundeskreis wird man weniger eingeladen oder sogar gemieden. Es geht sehr um die Distanz, auf die man von seinem Umfeld gehalten wird.

Spielt da Angst eine Rolle?

Angst spielt auf jeden Fall eine grosse Rolle und auch der Eindruck, dass diese Menschen nicht dazu gehören, weil sie irgendwie anders sind. Das ist etwas, was nicht gut kontrollierbar ist. Es ist ja auch eine spannende Frage, wie viel Eigenverantwortung die «Stigmatisierer» selbst haben. Wie viel Kontrolle haben sie tatsächlich darüber, wie offen sie sein können. Es hängt zum Beispiel sehr stark davon ab, wie integrativ man aufgewachsen ist, ob das Umfeld divers und tolerant war. Wenn solche Faktoren einen Einfluss haben, können Sie sich ja denken, dass es mitunter Generationen dauert, bevor sich etwas ändert. Deshalb ist Integrationsförderung in jedem Bereich immer ein sehr langfristiges Vorhaben, an dem man kontinuierlich arbeiten muss, um Änderungseffekte zu erreichen.

Prof. Dr. med Christian Huber ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet die Erwachsenen-Psychiatrie, das Gesundheitszentrum Psychiatrie und das Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention der UPK Basel.

Was wird denn konkret gemacht, um die Vorurteile in der Bevölkerung abzubauen?

In der ganzen Schweiz und in Basel fangen wir natürlich nicht bei Null an. Gerade in Basel herrscht ein sehr tolerantes und offenes Klima. Es gibt auch schon jahrelange Bemühungen, den Kontakt zur Psychiatrie niederschwelliger zu gestalten, damit sich die Betroffenen leichter Hilfe suchen können. Das machen wir zum Beispiel mit der Kriseninterventionsstation im Universitätsspital Basel. Diese hat eben genau den strukturellen Vorteil, den wir in der Studie erforscht haben: Sie befindet sich in einem grossen Allgemeinspital. Der Zugang dort fällt manchen Menschen deutlich leichter als der Weg zum Campus der UPK Basel (Anm. d. Red: Universitäre Psychiatrische Kliniken an der Wilhelm-Klein-Strasse). Aus unserer Studie wissen wir umgekehrt auch, dass die Betroffenen, die das Angebot im Unispital nutzen, als weniger gefährlich wahrgenommen werden.

Klärt man auch über die Krankheiten an sich und deren Symptome auf?

Reine Informationsvermittlung gehört oft zu Integrationskampagnen, hilft aber alleine nicht sehr viel. Bei solchen Kampagnen ist es oft das Ziel, über die Krankheit aufzuklären und zu zeigen, wie gross die Gruppe der Betroffenen eigentlich ist. Da heisst es dann zum Beispiel: Jeder Dritte ist innerhalb seines Lebens von einer psychischen Erkrankung betroffen.

Schlummert denn in jedem von uns eine psychische Störung?

Jeder Mensch kann theoretisch in Abhängigkeit von Risikofaktoren, von Belastungen, denen er ausgesetzt ist, und seinen Möglichkeiten, damit umzugehen, psychisch krank werden. Ein genetisches Risiko allein entscheidet nur teilweise darüber, ob eine Krankheit auftritt. Die Frage ist unter anderem, wie die Gene an- und abgeschaltet werden. Auch Umweltfaktoren und Lerngeschichten haben eine grosse Bedeutung. Das ist die Erklärung dafür, warum Menschen im Leben etwas Schlimmes zustossen kann und die einen das gut wegstecken können, während die anderen dann krank werden.

In Ihrer Studie beschreiben Sie, dass Nähe und psychiatrische Erfahrung sich positiv auf den Umgang mit psychisch Erkrankten auswirken.

Unsere Ergebnisse haben gezeigt, dass Menschen, die bisher keinen Psychiatrie-Kontakt hatten, mehr Mühe damit haben, Menschen mit psychiatrischer Vorbehandlung oder einer psychischen Erkrankung näher zu kommen als Menschen, die schon Psychiatrie-Kontakt hatten.

Sie haben als Psychiater berufsbedingt jeden Tag mit psychischen Erkrankungen zu tun. Und Sie haben ein grosses Wissen über die Symptome und die tatsächliche Gefährlichkeit der Patienten. Sind Sie gegen Vorurteile und Stigmatisierung gefeit?

Wir Psychiater haben zwar immer wieder engen Kontakt zu Menschen mit psychischen Problemen. Aber Nähe ist natürlich nicht der einzige Faktor, der für die Beurteilung der Betroffenen eine Rolle spielt. Je nach Behandlungsumfeld sehen wir eher leicht Kranke oder eben schwer kranke Menschen. Leichter Erkrankte über eine kürzere Zeitspanne, Betroffene mit schlechterer Prognose häufiger. Und da liegt, glaube ich, der Hund begraben, was Stigmatisierung durch Psychiater angeht. Weil wir Menschen mit schlechterem Krankheitsverlauf öfter sehen, ist es auch kein Wunder, dass wir durch diese Berufserfahrung voreingenommen sind und dazu tendieren, grundsätzlich eher schlechtere Prognosen zu erstellen.

Raten Sie Ihren Patienten denn dazu, sich zu outen?

Das ist eine schwierige Frage. Stigmatisierung kommt nicht immer nur von aussen, es gibt auch Selbst-Stigmatisierung. Die Patienten empfinden sich selbst als krank, minderwertig oder schuldig und sprechen oft nur mit ausgewählten Vertrauenspersonen über ihre Situation. Es ist eine Einzelfallentscheidung, wie offen man mit der eigenen Erkrankung umgeht. Das Ziel wäre es ja, dass man die Umgebungsbedingungen so verändert, dass es für die Betroffenen kein Nachteil mehr ist, sich zu öffnen. Das ist für unterschiedliche Krankheitsbilder unterschiedlich gut gelungen. Eine Depression oder ein Burn-out zu haben, ist zum Beispiel relativ gut akzeptiert in der Gesellschaft, während andere Krankheiten leider weniger Akzeptanz erfahren.

Nächster Artikel