Das Diktat

Vor der Reform wurde eine Schule versprochen, die alle mitgestalten können. Bei der Umsetzung wollen die Behörden davon aber nichts mehr wissen.

(Bild: Livio Marc Stöckli)

Vor der Reform wurde eine Schule versprochen, die alle mitgestalten können. Bei der Umsetzung wollen die Behörden davon aber nichts mehr wissen.

Einen schwierigen Job hatten die Schulbehörden schon immer. Aber ganz zu Beginn, bei der Vorbereitung der aktuellen Harmos-Schul­reform, da hatten sie noch Gestaltungsspielraum. Da konnten sie immer wieder neue Strategien entwickeln, und wenn sich dabei Probleme ergaben, konnten sie diese auf dem Papier gleich selbst lösen.

In Basel müsste Harmos bis 2015 umgesetzt werden. Doch ausgerechnet jetzt, in der entscheidenden Phase, entstehen immer mehr Probleme, die sich kaum einfach lösen lassen. Weil sich Erziehungsdirektor Christoph Eymann (LDP) und seine Leute vom Departement nun mit den Betroffenen ihrer Planung und den unterschiedlichen Interessenvertretern auseinandersetzen müssen.

Das fängt schon bei den Um- und Neubauten von Schulhäusern an. 720 Millionen Franken will die Regierung dafür ausgeben. Viel Geld, sollte man meinen. Aber längst nicht genug, um die Wünsche aller involvierten Fachleute und Lobbyisten zu erfüllen – Denkmalschutz, amtliche Energiesparer, Behindertenorganisationen, Lehrerkollegien und so weiter. Das führt zu schwierigen Diskussionen zwischen den beteiligten Departementen (Finanz, Bau, Erziehung), zu Verzögerungen und selbst zu Abstrichen an den Projekten.

Zu Beginn klang alles verheissungsvoll

Fast noch schwieriger ist der Umgang mit den Betroffenen. Lange waren es vor allem die Lehrer, die sich beklagten; über die eilige Integration schwieriger Schüler und Behinderter in die Regelklassen, wenn die Kleinklassen einmal aufgelöst sind; über die Verlegung von Lehrern und Klassen von einem Standort an den anderen; über den Leerlauf, der mit den vielen Neuerungen verbunden ist.

Dann kamen die Politiker mit immer neuen Vorstössen – und heiklen Fragen. Etwa jener nach den Nachteilen von Klassen, in denen fast kein Kind mehr Schweizerdeutsch als Muttersprache hat. Zuletzt wurde aber auch Kritik vonseiten der Eltern laut, die sich etwa über die neuen Schulwege beklagen. Diese seien gefährlich, sagen Familien, deren Kinder vom Bläsischulhaus auf das Erlenmatt-Areal verlegt werden.

Die Reaktion der Behörden wirkt teilweise durchaus bemüht – teilweise aber auch betont ablehnend. Christoph Eymann zum Beispiel, der in einem Interview ankündigte, einen missliebigen Vorstoss «abhängen zu lassen», falls dieser durchs Parlament komme. Oder sein Departement, das den Basler Musiklehrern und ihren Schülern verbot, ihr Lied wider die geplante Abschaffung der Spezialklassen mit dem Schwerpunkt Musik in der Öffentlichkeit darzubieten. Dabei klang in der Planungsphase noch alles so verheissungsvoll.

Es war die Zeit vor 2010, in der die grossen Grundsatzentscheide gefällt wurden. Die Abschaffung des verpönten Basler Schulsystems, das auf Gemeinschaft statt auf Konkurrenz setzt. Die Einführung von drei Leistungszügen (A, E und P) in der Sek, die Verlängerung der Primarschule von vier auf sechs Jahre gemäss Harmos und die entsprechende Verkürzung der weiterführenden Ausbildungsgänge. Das wiederum bedingte die Planung neuer Schulhäuser und von Schulhausumbauten.

Versprochen war eine Reform von unten

Nach Monaten und Jahren der Vorbereitungen war man im ED vor drei Jahren schliesslich überzeugt, für sämtliche Probleme eine Lösung gefunden zu haben. Eine Strategie, die nicht nur zu Basel-Stadt passte, sondern zur ganzen Region. «Bildungsraum Nordwestschweiz» hiess das Projekt für ein gemeinsames Schulsystem in den beiden Basel, im Aargau und in Solothurn. Nach der grossen Ankündigung wollten die Aargauer und Solothurner dann aber doch nicht auf ihre verschiedenen Speziallösungen verzichten, und so war bald nur noch von einem Bildungsraum beider Basel die Rede. Spötter sprachen sogar schon von einem «Bildungsschaum» – einer eindrücklichen Erscheinung, die aber fast nur aus Luft besteht.

Im Grossen Rat kam das Basler Harmos-Projekt im Mai 2010 dennoch gut an. Die Parteien werteten sie als Jahrhundertwerk, vergleichbar höchstens noch mit der Verabschiedung des Basler Schulgesetzes anno 1929. Dagegen stimmte nur die SVP, und auch sie nur aus Prinzip, wie in jedem Kanton. Eigentlich war aber selbst sie dafür. Weil es mit der Basler Schule nur noch besser werden könne, wie man sich in der Volkspartei sagte. Andere hielten diese Skepsis für unbegründet. Christine Heuss (FDP) zum Beispiel, die damalige Präsidentin der Bildungskommission, kündigte in der Grossratsdebatte voller Zuversicht an, dass mit der Reform eine «Bewegung von unten nach oben» in Gang gesetzt werde. Die einzelnen Lehrer und Kollegen würden ihre Schulen nun selbst weiterentwickeln. Hinter dieser Lösung könne nun die gesamte Öffentlichkeit stehen – Politik, Volk, Schule, ergänzte Erziehungsdirektor Christoph Eymann. Das sei bei der letzten grossen Schulreform in den 1980er-Jahren nicht der Fall gewesen. Und daran sei sie gescheitert.

Alle können mitreden – tatsächlich?

Dieses Debakel sollte sich nicht wiederholen. Also versuchte das Erziehungsdepartement frühzeitig, die verschiedenen Interessengruppen einzubinden. Mit verschiedenen Gremien, in denen möglichst alle Interessierten ihre Meinungen einbringen können. Die Lehrer in Umfragen und an der Schulsynode, die Eltern wahlweise in Schulräten, Elternräten oder auch Mitwirkungsshops, wo bauliche Themen behandelt werden und selbstverständlich auch die Anwohner der jeweiligen Schule willkommen sind.

In der Zwischenzeit bröckelt aber auch die Unterstützung für Harmos auf allen Seiten, die Verantwortlichen im Erziehungsdepartement treffen auf wachsende Widerstände. Eltern­räte, Schulräte und Schulratspräsidenten geben ihren Rückzug bekannt. Vollmundig angekündigte Mitwirkungsworkshops entpuppen sich als Alibiübungen, und Lehrer fühlen sich vor vollendete Tatsachen gestellt.

Die Schulreform als Gemeinschaftswerk: eine Illusion. Und das sorgt für Frust – ein Grund, warum auf Ende Schuljahr ein Drittel aller Schulratspräsidenten zurücktritt. Auch wenn die Begründungen unterschiedlich sind, eine Aussage hört man immer wieder: dass die Funktion mit keiner Kompetenz verbunden sei. Was also soll dieses Amt? Es ist die gleiche Frage, die sich auch der Vorstand des Elternrates vom Bläsischulhaus stellte – und sie Mitte Mai mit dem kollektiven Rücktritt beantwortete.

Politiker verlangen nach neuen Lösungen

Möglich also, dass von den Gremien, die laut offizieller Beschreibung den «Dialog zwischen allen an der Schule beteiligten Anspruchsgruppen» sicherstellen sollen, bald nicht mehr viel zu hören sein wird. Nicht verstummen werden dagegen die Politiker. Am lautetesten war bisher die SVP. Ihr Lieblingsthema: Die Schulen im Gundeli, im St. Johann, im Kleinbasel und in Kleinhüningen mit einem besonders hohen Anteil fremdsprachiger Kinder. Mit Klassen, in denen kaum mehr ein Kind von Haus aus Deutsch spricht. Schlecht sei das nicht nur für die Schweizer Schüler, die zu wenig gefördert würden, sondern fürs ganze Quartier und die ganze Stadt, sagt zum Beispiel SVP-Grossrat Joël Thüring: «Die jungen Schweizer Familien sind halt einfach unzufrieden und ziehen weg.»

SP hat das Thema jetzt auch entdeckt

Während die SVP eher zu radikalen Lösungen tendiert – zu einer restriktiven Einwanderungspolitik zum Beispiel – sucht die SP nun nach neuen Lösungen, nachdem auch sie das Thema vor Kurzem entdeckt hat. Zuerst forderte SP-Grossrätin Sibylle Benz eine Mindestquote für deutschsprachige Kinder in den Schulklassen und sorgte damit landesweit für Aufsehen. Im Grossen Rat wurde ihr Vorschlag aber ganz knapp abgelehnt. Nun kommt ihr Parteikollege Daniel Goepfert mit einem neuen Vorschlag. Der frühere Grossratspräsident schlägt vor, dass jede Sekundarschule ein eigenes Profil entwickelt, einen Schwerpunkt etwa in Sport, Mathematik, Naturwissenschaften oder Alten Sprachen. «Jeder Schulstandort soll seine eigene Identität haben. Sobald sich die Schüler und ihre Eltern nicht aufgrund des Standorts, sondern des Profils für eine Schule entscheiden, verbessert sich die soziale Durchmischung», sagt Goepfert.

Beim Erziehungsdepartement stösst er mit seinem Vorstoss aber ebenso auf Ablehnung wie vor ihm schon seine Parteikollegin Benz. Volksschulleiter Pierre Felder kritisiert, der Vorschlag widerspreche dem Auftrag der obligatorischen Schule. «Eine unterschiedliche Profilierung der Sekundarstufen würde letztlich auf eine freie Schulwahl hinauslaufen.» Felder hält einen derartigen Wettbewerb zwischen den Sekundarschulen für keine gute Idee. «Am Ende werben die Schulhäuser mit Hochglanzbroschüren um Schüler. So weit darf es nicht kommen.» Zudem habe sich das Stimmvolk in den letzten Jahren wiederholt gegen die freie Schulwahl ausgesprochen. Den teilautonomen Sekundarschulstandorten stehe es hingegen frei, mit Projekttagen, kooperativem Lernen oder Freifächern unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen, eine eigentliche Profilierung ist aber nicht erwünscht.

Am Ende entscheidet der Kanton

Es sind andere Kriterien, die in Zukunft über die Verteilung der Schüler auf die Sekundarschulhäuser entscheiden sollen. Das Ziel sei eine ausgeglichene Auslastung der drei Leistungszüge (A, E, P). Über die Zuteilung entscheidet also der Kanton. Die Eltern sollen drei Präferenzen angeben können. Ob diese dann tatsächlich auch berücksichtigt werden, ist allerdings ungewiss. Die gleichmässige Verteilung auf die Leistungszüge scheint oberste Priorität zu haben.

Sehr viel besser kommt Goepferts Vorstoss dagegen in der Politik an, weil seine Idee nicht auf Zwang abzielt wie der Vorstoss von Benz, sondern auf eine Profilierung der einzelnen Schulen. Und damit auch auf etwas mehr Wettbewerb unter den einzelnen Schulen. Das macht den Vorschlag auch für Bürgerliche attraktiv, glaubt Goepfert. Eine Einschätzung, die von bürgerlichen Bildungspolitikern geteilt wird, wie eine Anfrage der TagesWoche bei Christian Mutschler (FDP) und Joël Thüring (SVP) zeigt. So gelangen mit der Unterstützung für Goepferts Vorstoss automatisch auch jene heiklen Fragen auf die Traktandenliste des Grossen Rates, die das ED am liebsten stillschweigend im Büro beantwortet hätte: Wie viel Freiraum soll man den Schulen geben, wie viel Wahlfreiheit den Kindern und ihren Eltern? Inwiefern würde Konkurrenz die Schule beleben, inwiefern könnte sie ihr schaden?

Freie Gymwahl kommt erst später – oder gar nicht

Die heutige Haltung des ED ist klar. Daneben gibt es allerdings auch noch die alten Versprechen, wonach den Standortwünschen der Schüler und ihrer Eltern in der neuen Sek möglichst entsprochen wird. Oder die alte Aussage des ED, wonach sich Konkurrenz, gepaart mit Kooperation, auch in der Schullandschaft positiv auswirken würde. Mit diesem Argument wurde 2010 jedenfalls die freie Gymwahl für alle Basler, Baselbieter, Solothurner und Aargauer in allen vier Kantonen begründet.

Es ist eines der letzten Projekte, das vom Bildungsraum Nordwestschweiz noch übrig blieb. Bis jetzt zumindest. Wie die TagesWoche in Erfahrung gebracht hat, wird die Umsetzung der freien Gymwahl erst einmal um ein Jahr auf 2015 verschoben, angeblich weil die Baselbieter Angst haben, zu viele Gymschüler an die Stadt zu verlieren. Weitere Erklärungen sind weder von der Bildungsdirektion in Liestal noch vom Erziehungsdepartement in Basel zu erhalten. In den Basler Gymnasien geht man jedenfalls bereits davon aus, dass die Umsetzung noch weitere Jahre verschoben werden könnte – bis auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.

Ganz ähnlich könnte es der Harmos-Reform in Basel ergehen: die grossen Verheissungen werden kleiner und kleiner, aus Angst vor allzu viel Freiheit, vor Schülerströmen, die sich kaum mehr kontrollieren lassen; vor Schulen, in die niemand mehr gehen will, und andere, die allzu beliebt sind.

Das will Goepfert aber nicht akzeptieren: «Ich habe den Eindruck, dass die Verantwortlichen bisweilen das Wesentliche aus den Augen verlieren: die Bedürfnisse der Schüler. Das darf nicht sein.»

Widerstand gegen zweite Fremdsprache. Ein weiterer Streitpunkt innerhalb der landesweit angelegten Schulreform und -harmonisierung ist die Einführung zweier Frühfremdsprachen in der Primarstufe. In den beiden Basel ist ab der dritten Klasse Französisch und ab der fünften Klasse Englisch vorgesehen. Andere Kantone geben der Weltsprache Englisch den Vorzug vor der Landessprache Französisch. Nun ist es aber nicht einmal in erster Linie diese Uneinheitlichkeit, welche die Kritiker stört. Sie bemängeln vielmehr eine Überforderung der Kinder, insbesondere der fremdsprachigen, die unter Umständen bereits mit Deutsch Mühe haben. Bedenken haben auch die Lehrer. Darum will der Lehrerverband LCH an seiner Versammlung vom Samstag eine Resolution verabschieden, in der zusätzliche Lehrkräfte für den Frühfremdsprachen-Unterricht und eine angemessene Weiterbildung gefordert werden. Falls diese «Grundbedingungen für einen gelingenden Fremdsprachenunterricht» bis zum Schuljahr 2015/16 nicht umgesetzt werden, will der LCH politisch aktiv werden, wie Verbandspräsident Beat Zemp gegenüber dem ­«Tages-Anzeiger» sagte: «Dann soll die zweite Fremdsprache als Wahlpflichtfach eingeführt werden.» Die Eltern könnten dann entscheiden, ob das Kind die zweite Fremdsprache bereits ab der fünften Klasse oder erst später lernen soll. Verschiedene kantonale Verbände haben ihre Mitglieder ­zum Thema befragt – und das Ergebnis, etwa aus dem Kanton Baselland, ist nicht unbedingt sehr positiv. Mehr als drei Viertel der Primarschullehrer sind dort der Ansicht, dass auf ihrer Stufe nur eine Fremdsprache obligatorisch sein sollte. Die Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz bittet die Lehrer nun um etwas mehr Geduld, signalisiert aber Bereitschaft, ­lernschwache Schüler von den Lernzielen im Fremdsprachenunterricht zu befreien.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.06.13

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