In Basel und der Schweiz grassiert das «Fasten-Fieber». Der Verzicht verspricht Glück, eine neue Gesellschaft und – fast noch wichtiger – eine gute Figur. Gesund ist das nicht unbedingt.
Alle haben es vom Fasten.
Der vollschlanke Arbeitskollege.
Die eigentlich jetzt schon schlanke Nachbarin.
Die Medien.
Nur «20 Minuten» schreibt nichts vom Fasten. Dort ist von «Detox» die Rede, Entgiften. Das bedeutet zwar das Gleiche, klingt aber moderner.
«Kampf den Giften: Die Schweizer im Detox-Fieber» titelte vor Kurzem das Blatt, das selbst für einen eher etwas abgespeckten Journalismus steht. Bewusster Verzicht sei «trendy», weil immer mehr Menschen ihrer Gesundheit etwas Gutes tun möchten – mit Suppe und Saft statt fettiger Nahrung.
Als etwas unappetitlich wird in den Medien höchstens der Anfang einer Fastenkur beschrieben. Die Einläufe bringen den Körper so durcheinander, dass ihm der Appetit bis auf Weiteres vergeht. Darum sollte einem beim Fasten kein Hungergefühl plagen. Gleichzeitig produziert der Körper mehr Glückshormone, so dass viele Fastende von Hochgefühlen berichten, die sich ab dem dritten Tag nach der Darmentleerung einstellen würden.
Die halbe Stunde mit der Kohlmeise
Dieses schöne Erlebnis blieb der Reporterin zwar verwehrt, die vom «Migros-Magazin» in eine Selbsterfahrungs-Kur ins Bündnerland geschickt wurde. Immerhin konnte sie nach der Saftwoche ohne feste Nahrung, dafür mit Yoga und Shiatsu im Rahmenprogramm, von Momenten berichten, in denen sie «glasklare Gedanken und super Ideen» gehabt habe. Dann wieder sei sie einfach so dagesessen, am Fenster, habe eine halbe Stunde oder so den Kohlmeisen zugeschaut und an gar nichts gedacht. Nach diesen Erlebnissen glaubte die Reporterin erahnen zu können, warum es Menschen gibt, die sagen, Fasten mache süchtig, weil es zu einer «inneren Gelassenheit» und einer «tieferen Spiritualität» führe.
Fragt sich nur noch, wie vielen Menschen es denn tatsächlich vergönnt ist, in diese Sphären vorzudringen. Und wie viele es auch nur schon versuchen. In der Schweiz ist das Zahlenmaterial etwa so dürr wie ein Asket in der Wüste, der nur von der Luft und seinem Glauben lebt.
Etwas mehr Fleisch am Knochen gibts in Deutschland. Gemäss einer repräsentativen Online-Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov hat sich dort Anfang Jahr jeder Zehnte vorgenommen, vom Aschermittwoch bis an Ostern nichts zu essen oder auf eine andere Art Verzicht zu üben. Weitere neun Prozent spielten ernsthaft mit dem Gedanken, aufs Essen oder auch auf andere kleine Freuden wie Alkohol, Zigaretten und Sex zu verzichten (oder auch auf alles zusammen). Wobei die jüngeren Erwachsenen gemäss Umfrage deutlich strenger zu sich sind als die älteren.
Und sie assen Wurst
Dieser Hang zum Verzicht ist keine Selbstverständlichkeit – trotz der uralten Tradition des Fastens in allen Religionen. Im Christentum verlangte die katholische Kirche, dass die Menschen dem Vorbild von Jesus Christus folgten, der in der Wüste vierzig Tage und Nächte gefastet hatte – und die Gläubigen taten es ihm auch mehr oder weniger konsequent gleich.
Doch dann kamen die Reformierten, die nichts mehr auf die grossen Gesten und die alten Rituale gaben, sondern nur noch auf die innerliche Beziehung zu Gott. Darum richtete auch der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli seine erste reformatorische Schrift gegen die Fasterei. Im gleichen Jahr war Zwingli, sonst ja auch nicht unbedingt ein Ausbund an Frivolität, einer jener Zürcher Herren, die sich während der Fastenzeit demonstrativ beim legendären Wurstessen verlustierten.
Kein Wunder, wurde vor allem in den reformierten Gebieten der Schweiz bald nicht mehr gefastet – bis die Menschen vor ein paar Jahren die Lust auf den Verzicht wieder neu entdeckten. So jedenfalls erlebte es Michael Bangert, Pfarrer in der christkatholischen Predigerkirche in Basel. Vor fünf Jahren liess seine Kirche gemeinsam mit der römisch-katholischen Gemeinde darum die Tradition des «Aeschestraichs» wiederaufleben.
«Bedenke Mensch, dass du Staub bist»
Am Freitag nach der Fasnacht war es wieder so weit. Beim gemeinsamen Gottesdienst in der Predigerkirche ertönte noch einmal die Fasnachtstrommel, gleich zu Beginn, zuerst mächtig und laut dann eher langsam und ruhig, ehe nach einem letzten furiosen Wirbel endgültig Schluss war.
Schluss mit dem Trommeln. Schluss mit der Fasnacht. Schluss mit dem ausschweifenden Leben.
Es folgt die Einkehr, die Vorbereitung auf Ostern und damit die Auseinandersetzung mit dem Tod und der Auferstehung von Christus. «Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehrst», sagte der Pfarrer beim «Aeschestraich», während er den Gläubigen das Aeschenkreuz auf die Stirn oder die Hand malte. Danach erbat er Gottes Segen: «Hilf uns, auf alles zu verzichten, was uns schwer, träge und lieblos macht.» Das gilt in erster Linie fürs Essen.
Denn wer sich satt isst, hungert nicht mehr, auch nicht nach geistiger Nahrung, das wussten schon die Mönchsväter und sonstigen Asketen in der Spätantike und im Frühmittelalter. Die Wüstenmutter Amma Synkletika zum Beispiel mahnte: «Die Üppigkeit der Weltleute soll dich nicht reizen, als wäre sie etwas Wertvolles, es geht doch dabei nur um Lust. Denn bei ihnen ist die Kochkunst in Ehren, aber durch Fasten und einfache Speise bist du dem Überfluss ihrer Nahrung überlegen.»
Wider den Überfluss
Die gleiche Erfahrung macht das eine oder andere Jahrhundert später jetzt auch Pfarrer Michael Bangert: «Beim Fasten kann ich mich ganz auf mich selbst und Gott konzentrieren, die Wahrnehmung schärfen und auch die Spiritualität neu entdecken», sagt er. Das gebe ihm ein «gutes, beschwingtes» Gefühl.
Bis an Ostern verzichtet Bangert nicht nur auf Fleisch und während neun Tagen auf feste Nahrung, sondern ganz generell auf «übermässigen Konsum», wie er es nennt: «Ich lasse mich auch von den Medien und ihrer Bilderflut nicht mehr vollstopfen.» Diese Reduktion fördere die Wahrnehmung von Glück – nicht nur bei ihm, ist Bangert überzeugt: «Vor allem junge Menschen schätzen diese Verzichtkultur – als eine Art Gegenentwurf zu unserer Überflussgesellschaft.»
Wie der Herrgott «bschisse» wird
Ganz so einfach ist das allerdings gar nicht, das mit dem Verzichten. Schuld daran ist diese ewige Versuchung, die gerade in der Zeit der Entbehrung besonders schlimm ist. Das war schon bei Jesus in der Wüste so. Nach vierzig Tagen Fasten bekam er Hunger – und schon war der Teufel zur Stelle. «Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird», sagte der grosse Versucher. Jesus aber antwortete: «In der Schrift heisst es: Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt» (Matthäus 4,2).
Auch unter seinen Anhängern in der Kirche waren allerdings längst nicht alle so konsequent wie Jesus. Dafür mindestens so schlau wie der Teufel. Im Mittelalter entwickelten Mönche das Starkbier, damit sie wenigstens was Anständiges trinken konnten, wenn sie schon nichts essen durften (und auch gegen die berauschende Wirkung werden sie kaum etwas einzuwenden gehabt haben).
Ein Konzil erklärte Biber, Dachs und Otter zu Fischen, damit sie auch an den angeblich fleischlosen Fasten- und Freitagen verzehrt werden durften und im Schwabenland schufen Gläubige die Maultaschen, in denen die Fleischfüllung mittels Nudelteig vor dem Herrn versteckt werden konnte – darum der Name: «Herrgottsb’scheisserle».
Diese doppelte Lust am Verzicht und an der Versuchung ist es vielleicht, die den besonderen Reiz des Fastens ausmacht. Und ist auch eine wunderbare Grundlage für grossartige Geschäfte. Mit Ausnahme von Biber-Diäten (wegen der vielen Fasterei ist das Tier fast augestorben) gibt es auf dem Fasten-Markt fast nichts, was es nicht gibt. Fasten mit Früchten, Fasten mit Bio-Rohkost, Fasten mit Wandern und Radeln, Fasten mit Ernährungscoach, Heilpraktiker oder Hund. Fasten in den Bergen, Fasten am Meer, Fasten verbunden mit «Kulturprogramm in Lykien/Türkei» oder einem «Wüstenabenteuer in der Sahara».
Traditionalisten können auf die «Wellness-Woche» der Firma Biotta zurückgreifen – den Klassiker, seit zwanzig Jahren, während sich der moderne Manager wohl eher für die Luxusvariante der Firma Detox Delight seit 2012 erwärmen wird, die ihre Säfte, Suppen, Tees und ihr Grünzeug neuerdings auch in der Schweiz heim oder an den Arbeitsplatz liefert (428 Franken kostet das 5-Tage-Programm, 1178 Franken das 14-Tage-Programm).
Selbst für jene Entbehrungswillige, denen das alles zu kompliziert ist, gibt es noch ein passendes Angebot: das «Anfängerfasten», zum Beispiel auf der Nordseeinsel Juist für 680 Euro die Woche.
Eher zwanghaft als befreiend
Der Basler Pfarrer Michael Bangert spricht von einem «grossen Business für Verwöhnte und Ideenlose»: «Es ist schon etwas skurril, wenn Leute auch noch viel Geld ausgeben, um die goldigen Speckrollen am Bauch wieder loszuwerden.» Das habe nichts mehr Leichtes und Erhebendes, sondern eher etwas Zwanghaftes: «Wer eine solche Kur macht, hat vor allem eines im Sinn: abzunehmen, damit er dem gängigen Schönheitsideal wieder eher entspricht. Da gibt es einen grossen Druck – vor allem auf die Frauen.»
Gar noch deutlicher als der Pfarrer wird der deutsche Ernährungsexperte Sven David Müller: «In anderen Ländern verhungern die Menschen, weil sie nichts zu essen haben, während sie hier bei uns in einem teuren Hotel oder einer Kurklinik liegen und sich, mit irgendwelchen Heublumensäcken auf dem Bauch, einer künstlich erzeugten Hungersnot hingeben.»
Schädlich sei das erst noch, weil der Mensch darauf programmiert sei, regelmässig zu essen. Nach ein, zwei Tagen ohne Nahrung aktiviert der Körper seine Notsysteme. Dabei werden unter anderem Muskeln abgebaut, der Energieverbrauch sinkt – und bleibt auch nach Abschluss der Kur auf einem tiefen Niveau. Das hat zur Folge, dass der Körper die überschüssige Energie in Form von Fett ablagert. Ein Phänomen, das viele Menschen nur allzu gut kennen – den Jo-Jo-Effekt.
«Dann nennt sich das Ganze auch noch Heilfasten – unglaublich!», ärgert sich Müller. «Ein Humbug ist das! Nicht mehr.» Nur sagen dürfe man das nicht. «Weil dieses Millionenbusiness schon quasireligiöse Züge angenommen hat.»
Sinnvoll ist nach Ansicht von Mülller nur das uralte «religiöse Fasten», so wie es seit dem Mittelalter vom gewöhnlichen Volk praktiziert wird. Nicht ganz so streng wie in jenen Klöstern, wo gar nichts gegessen werden sollte, aber immerhin: unter Verzicht auf Fleisch und Genussmittel. «Wasser anstatt Wein zu trinken und regelmässig Gemüse zu essen, wäre sowieso immer sinnvoll – und für einige Menschen ja auch schon Kasteiung genug.»
Der grundlegende Irrtum
Etwas anders sieht es der Rapperswiler Ernährungsberater und Chirurg Peter Schmid. Richtig durchgeführtes Heilfasten könne ein wichtiger Reinigungsprozess sein, sagt er. Das bringe aber nur etwas, wenn die Kur zu einem «neuen, nachhaltigen Essverhalten führt».
Will heissen: gesunde Nahrung zu sich nehmen, langsam und gut kauen, damit man den Sättigungseffekt wieder spürt, und sich am Abend mit Essen möglichst zurückhalten, da die Verdauungstätigkeit nachts auf ein Minimum reduziert wird. Wer sich nicht daran hält, wird die Kilos bald wieder auf den Rippen haben, die er beim Fasten verloren hat. Zumindest in diesem Punkt sind sich Schmid und Müller einig.
Dumm nur, dass sich viele Hungernde wohl etwas anderes erhoffen: Abnehmen gilt heute als Hauptgrund fürs Fasten.
Wahrscheinlich wird der Arbeitskollege also bald wieder vom Fasten reden. Und die Medien einen Grund haben, wieder darüber zu schreiben.
Fasten – so wirds gemacht
Was genau ist Fasten? Schwierige Frage. Schliesslich gibt es eine schier unendliche Auswahl an verschiedenen Methoden. Ernährungsberater und Chirurg Peter Schmid unterscheidet drei grundsätzliche Strömungen: das Heilfasten, das religiöse Fasten und das spirituelle Fasten, bei dem es um die bewusste Erfahrung des Verzichts geht. Schmid selbst ist diplomierter
F.-X.-Mayr-Arzt, praktiziert also eine Methode zur Entschlackung und Gesundheitsförderung, die nach dem österreichischen Kurarzt Mayr (1875–1965) benannt ist.
Wichtig sei die richtige Beratung vor einer Kur und die dauerhafte Umstellung der Essgewohnheiten danach, sagt Schmid. Zur Reinigung des Körpers sei es auch längerfristig sinnvoll, zwei Mal pro Jahr zu fasten – so wie es auch in der Kirche vor Ostern und Weihnachten üblich ist. Die jetzt laufende Fastenzeit dauert vierzig Tage (ohne die fastenfreien Sonntage gerechnet) von Aschermittwoch bis Ostern. Basel macht da allerdings eine Ausnahme wegen des späteren Fasnachtstermins. Der katholischen Kirche zufolge sollte man in dieser Zeit zumindest auf Fleisch und nach Möglichkeit auch auf Genussmittel verzichten und auch sonst nur zurückhaltend essen. Ähnlich läuft es in der christkatholischen Kirche, wobei die Gemeindemitglieder ganz für sich selbst entscheiden sollen, auf was sie verzichten wollen. Anfang April führt in Basel eine zehnköpfige Gruppe zudem eine strikte Fastenwoche durch, während der auch Pfarrer Michael Bangert nichts isst.
Er freut sich darauf. Und auch andere haben mit dem Fasten offenbar gute Erfahrungen gemacht. Nach einem ersten Artikel zum Thema haben wir jedenfalls folgende positiven Berichte erhalten: «Dank Detox ist mein Heuschnupfen, mein treuer Begleiter für mehr als 25 Jahre, auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Drei Wochen Fasten und dafür ein unbeschwerter Frühling – ein guter Deal!»
«Da ich gerne esse & koche & von meiner Mutter ein kleines Übergewichts-Gen geerbt habe, reduziere ich jedes Jahr in der Zeit Janurar–Februar mein Gewicht. Dabei ernähre ich mich wie gewohnt (ich liebe Grünzeug in Form von Salaten und Gemüsen), lasse aber Süssigkeiten, Alkohol und Brot weg: Dies führt zu einer stetigen Gewichtsreduktion, die dann etwa bis zum nächsten Januar anhält. Zielreduktiion 5 bis 10 Kilo. Gemütszustand: nicht schlapp, eher euphorisch, und bemerkenswerterweise bin ich in dieser Zeit nie erkältet. Als förderlich hat sich erwiesen, dass ich mir abends eine Kanne guten Kräutertee mit einem Teelöffel Honig zubereite und so das sonst übliche Glas Rotwein nicht vermisse.»