«Komm zu mir», spornt der stolze Vater seine Tochter Eva an, die sich – blond und knuffig – kaum auf den Beinen halten kann. Das Kleinkind macht ein paar wackelige Schritte auf dem Gras, stolpert über ein Filmkabel und stürzt. Der Vater dreht weiter.
Mit dem Glück ist es so eine Sache: Es lässt sich kaum fassen. Und wird es dennoch festgehalten, kann es sich unter Umständen sogar in sein Gegenteil verkehren: An ihrem 18. Geburtstag überreichte der Regisseur und Schauspieler Joseph Scheidegger (1929–2012) seiner Tochter Eva einen eineinhalbstündigen Filmzusammenschnitt ihres bisherigen Lebens, ein «Best-of» ihrer Kindheit – von den ersten Schritten bis zur USA-Reise im Teenager-Alter.
«Danach sprach ich zwei Jahre lang nicht mehr mit ihm», kommentiert die in Basel geborene Eva Vitija das zwiespältige Geschenk ihres Vaters in ihrem Dokumentarfilm «Das Leben drehen», der dieses Jahr mit dem Prix de Soleure ausgezeichnet wurde: Sie hatte die Nase voll vom ständigen Dokumentieren.
Hunderte Stunden Material
Dass die heute 42-jährige Regisseurin den Film mit Verspätung doch noch nachgeholt und für ihr Regiedebüt verwendet hat, hängt mit dem Tod ihres Vaters zusammen. Er hinterliess seiner Familie einen Berg von Archivmaterialien, Tagebüchern und Filmaufnahmen, durch den sich Vitija monatelang ackerte.
«Wir wollten eigentlich zählen, wie viel Material es ist, haben das aber immer hinausgeschoben, weil es uns entmutigt hätte», sagt die Filmemacherin im Interview. «Es waren wohl ein paar Hundert Stunden.» Spass habe es dennoch gemacht, sagt Vitija, die Drehbücher für Film und Fernsehen schreibt: Erstmals hatte sie Gelegenheit, mit ihren eigenen Emotionen zu arbeiten.
Aus dem Fundus an Aufzeichnungen und Erinnerungen hat Vitija eine bittersüsse Hommage an Joseph «Joschy» Scheidegger gezogen, der in Zürich in einfachen Verhältnissen aufwuchs, die Schauspielschule besuchte und darauf bei Radio Basel arbeitete: zunächst als Nachrichtensprecher, dann als Hörspielregisseur, bevor er zum Fernsehen wechselte. Und weil Fakten eben nicht immer für sich sprechen, lässt die Regisseurin ihre Familie zu Wort kommen, ihre geschiedene und wiederverheiratete Mutter, die Scheidegger in Basel kennenlernte, ihren Bruder – und ihren Halbbruder.
«Das war die schwierigste Begegnung überhaupt», erinnert sich Vitija. «Es war ja nicht so, dass mein Bruder und ich die Biografie unseres Vaters nicht gekannt hätten, aber wir haben als Kinder vieles ausgeblendet, das wir damals gar nicht sehen wollten. Wie stark auch wir verdrängten, wurde mir erst klar, als ich meinen Halbbruder nach 30 Jahren für den Film wieder getroffen habe.»
Papas Perspektive
Joseph Scheidegger gab nicht nur auf der Leinwand den leidenschaftlichen Liebhaber, bereits mit 22 Jahren wurde er Vater und heiratete die Kindsmutter, um die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen. Diese erste Ehe stand unter keinem guten Stern, der jüngere von zwei Söhnen starb in einer psychiatrischen Klinik. Das Filmen, so heisst es in «Das Leben drehen» einmal, sei wohl auch Scheideggers Versuch gewesen, seine Schuldgefühle im Zusammenhang mit seiner gescheiterten Ehe zu lindern.
Der Konflikt, zu dem diese Obsession mit der Kamera führte, sei für sie aber schon vor ihrem Dokumentarfilm abgeschlossen gewesen, sagt Vitija. «Mein Vater und ich hatten eine gute Beziehung und haben die Nähe zum Film auch miteinander geteilt: Wir gingen oft zusammen ins Kino.» In ihrem Dokumentarfilm sei es ihr vor allem darum gegangen, die Perspektive ihres Vaters einzunehmen, um seine Handlungen besser zu verstehen. «Er ist mir so noch einmal vertrauter geworden. Es gibt ja in jeder Familie Themen, über die nicht gesprochen wird.»
Wie in «Stories We Tell» – Sahra Polleys hinreissendem Familien-Dokumentarfilm, der Vitija als Referenz diente – geht es auch in «Das Leben drehen» um eine Geschichte, die weitererzählt wird, weil sie einfach zu gut ist, um sie unter Verschluss zu halten. Dabei waren die Aufnahmen, die Joseph Scheidegger sammelte, nie für die Leinwand bestimmt.
«Ich habe mich schon gefragt, was mir das Recht gibt, einen solchen Film zu drehen, und wieso unser Familienleben die Zuschauer interessieren soll», erklärt Vitija. Aber die Grenze sei heute viel durchlässiger als früher, private Momente rutschten direkt in die Öffentlichkeit. Das mache den Drang zur Dokumentation, den ihr Vater verspürte, so aktuell. «Es gibt eine Tendenz zur Selbstvermarktung des Privatlebens, die heute ein Stück weit Normalität ist.»
Selbstvermarktung als Stressfaktor
Eine trügerische Normalität allerdings, die sich weitgehend aus sonnigen Selfies zusammensetzt. «Diese Selbstvermarktung in den Social Media ist für viele junge Leute, die nicht so erfolgreich sind, ein grosser Stressfaktor», sagt Vitija. «Sie fragen sich, was mit ihnen nicht stimmt, wenn alle anderen doch so gut drauf sind.»
Mit «Das Leben drehen» ist Eva Vitija ein berührendes Debüt gelungen, das seine Erinnerungen an ein brüchiges Glück nicht überbelichtet und gerade deshalb glaubhaft wirkt. Es ist bei aller Tragik auch ein heiterer Film, der seine Regisseurin und ihr Publikum mit einem positiven Gefühl in die eigene Biografie zurückkehren lässt.
«Ich glaube, jetzt ist gut», schliesst Vitija. Mehr gebe es zu ihrer Familie nicht zu sagen, mit einer einzigen Einschränkung vielleicht: «Ich könnte mir vorstellen, einmal einen Film über meinen Halbbruder zu machen, der nicht auf das Material meines Vaters zurückgreift.»
Aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.