Das letzte Tabu

Mit einer Organspende lässt sich Leben retten. Doch erst wenige Menschen entscheiden sich für diesen letzten Akt nach dem eigenen Tod. Aus ethischen Gründen und weil sich selbst Ärzte noch darüber streiten, wann der Tod eintritt.

Nur rund zehn Prozent der Bevölkerung sind bereit, im eigenen Todesfall Organe zu spenden. (Bild: Keystone)

Mit einer Organspende lässt sich Leben retten. Doch erst wenige Menschen entscheiden sich für diesen letzten Akt nach dem eigenen Tod. Aus ethischen Gründen und weil sich selbst Ärzte noch darüber streiten, wann der Tod eintritt.

Jedes Jahr müssen Menschen ster­ben, weil nicht genügend lebens­rettende Organe zur Verfügung stehen!» Mit solchen und ähnlichen Dringlichkeitsappellen wird die Be­völkerung in regelmässigen Abständen auf das Thema Organspende aufmerksam gemacht. Denn es herrscht ein akuter Mangel an Organen: Die Liste derjenigen, die auf ein Spenderorgan warten, wird immer länger, während die Zahl der Spender seit Jahren stagniert. Nur rund zehn Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz sind im Besitz eines Spenderausweises. Im Fokus der Kampagnen stehen in der Regel die Empfänger der Organe, die dank der Spende «ein neues Leben geschenkt» bekommen haben.

Ähnlich akut wie in der Schweiz ist der Organmangel auch in Deutschland. Laut Umfragen stehen zwar 80 Prozent der Deutschen der Organspende po­sitiv gegenüber, doch auch hier besitzt nur jeder Zehnte einen Spenderausweis. Um diese Quote zu erhöhen, wurde in unserem Nachbarland nun ein politischer Kompromiss ausgehandelt, der bis Mitte 2012 gesetzlich verankert werden soll.

In Zukunft sollen die Bundesbürger von den Krankenkassen regelmässig nach ihrer Bereitschaft zum Organspenden befragt werden – und zwar «mit so viel Nachdruck wie möglich, ohne jedoch eine Antwort zu erzwingen oder Sanktionen auszuüben». Bis anhin galt in Deutschland wie in der Schweiz die sogenannte erweiterte Zustimmungslösung: Für eine Organentnahme muss die Zustimmung des Patienten oder, wenn dieser nicht entscheidungsfähig ist, die Erlaubnis der Angehö­rigen vorliegen.

Es mangelt an Informationen

Ein Wechsel zur sogenannten Widerspruchsregelung schien den deutschen Politikern nicht durchsetzbar, daher nun der Kompromiss mit der «Entscheidungslösung». Länder wie Österreich, Frankreich, Italien oder Spanien haben die Widerspruchsregelung gesetzlich verankert, wonach sich Personen, die keine Organentnahme wünschen, in ein Widerspruchsregister eintragen müssen. Doch selbst dort wird vor der Organentnahme in der Regel nochmals nach der Zustimmung der Angehörigen gefragt.

Die grosse Mehrheit der Bevölkerung scheint sich entweder nicht mit dem Problem auseinandersetzen zu wollen oder das Unbehagen nicht loszuwerden, dass bei einer Organentnahme die Grenzen von Tod und Leben nicht klar gezogen sind. Um hier für mehr Aufklärung zu sorgen, haben sich in Deutschland betroffene Eltern zum Verein «Kritische Aufklärung über ­Organtransplantation» zusammengeschlossen.

Renate Greinert arbeitet im Vorstand des Vereins mit. Sie hat ihren Sohn Christian mit 15 Jahren durch einen Verkehrsunfall verloren. Wenige Stunden nach dem Unglück wurde sie von den Ärzten nach einer Organspende gefragt. «Nur mit vordergründigen ­Informationen versorgt, unwissend, welche Voraussetzungen eine Organentnahme hat, haben wir im tiefsten Schock, ohne überhaupt entscheidungsfähig zu sein, einer Organentnahme zugestimmt, als Mediziner uns den Tod unseres Sohnes mitteilten.»

Auch Renate Focke hat ihren Sohn durch einen Verkehrsunfall verloren. «Wir glaubten den Ärzten, als sie sagten, er sei tot.» Wie bei Renate Greinerts Sohn hatten die Ärzte auch in diesem Fall den Hirntod festgestellt. Was das konkret bedeutete, war den Eltern nicht klar. Sie fanden es nur befremdlich, dass jemand, der für tot erklärt wurde, nach wie vor beatmet und intensivmedizinisch betreut wurde.

Kaum jemand weiss ausserdem, dass die Zustimmung zu einer Organentnahme meistens bedeutet, dass nicht nur ein Organ, sondern wenn irgend möglich mehrere Organe entnommen werden. Bei Christian Greinert waren es Herz, Leber, Nieren, Augen, und auch die Beckenkamm­knochen wurden aus dem Körper gesägt. «Mein Sohn ist recycelt worden, über Europa verteilt, angeboten wie Ware», sagt seine Mutter.

Wer in der Schweiz einen Spenderausweis ausfüllt, kann ankreuzen, ob er «die Entnahme jeglicher Organe, Gewebe und Zellen und die damit verbundenen vorbereitenden Massnahmen gestattet» oder nur die von einzelnen Organen. Aber wer weiss schon, was unter «Gewebe und Zellen» zu verstehen ist und welche Organe sich für eine Transplantation anbieten? Von Augen, Knochen, Hornhaut, Dünndarm zum Beispiel ist in diesem Zusammenhang fast nie die Rede.

Die Skepsis, die bei den betroffenen Eltern Focke und Greinert durch den Schock der Erfahrung ausgelöst wurde, teilen auf der anderen Seite auch Medizinethiker – vor allem wenn es um die Kriterien geht, die festschreiben, wann ein Mensch tot ist. Und tot muss ein potenzieller Spender sein, sonst darf man ihm keine lebenswichtigen Organe entnehmen.

Der vorverlegte Todeszeitpunkt

Noch bis 1968 galt der Tod als eingetreten, wenn das Herz stillstand und der Kreislauf versagte. Die klassischen untrüglichen Todeszeichen waren das Fehlen des Herzschlags, Atemstillstand, Blässe, Leichenstarre und Leichenflecken. Bis der Körper aber diese untrüglichen Zeichen zeigt, muss Zeit vergehen.

Früher war in dieser Phase des ­Sterbeprozesses keine Eile geboten. Durch den Fortschritt der Transplantationsmedizin, vor allem im Zuge der ersten Herztransplantation, die 1967 von dem Chirurgen Christiaan Barnard in Kapstadt durchgeführt wurde, änderte sich das. Und führte zu neuen ­Todesdefinitionen – den sogenannten Hirntodkriterien. Der Zeitpunkt des Todes wurde gleichsam «vorverlegt», um qualitativ bessere Organe zur Verfügung zu haben. Würde man die Organspender nicht vorher für tot erklären, sähe man sich dem Vorwurf des Totschlags oder gar des Mordes ausgesetzt. Der Philosoph Hans Jonas hat das als «pragmatische Umdefinierung des Todes» bezeichnet.

Wenn Angehörige sich von ihren hirntoten Kindern, Ehemännern, Schwestern, Vätern verabschieden müssen, sind deren Körper noch warm, sie atmen – wenn auch mithilfe der Technik. Ihre Haut hat die normale Farbe, das Herz schlägt, der Stoffwechsel funktioniert noch. Schwangere Hirn­tote wurden sogar schon über Monate am Leben erhalten, damit das Kind ausgetragen werden konnte.

Unerwünschte Zuckungen

Bei der Organentnahme kommt es immer wieder vor, dass die Operierten mit einem erhöhten Blutdruck oder gar mit reflexartigen Bewegungen reagieren. Deshalb ist immer ein Anästhesist dabei, der in der Regel mit einer Nar­kose solche «unerwünschten» Zuckungen unterbindet: 17 mögliche Bewegungen beim Mann und 14 bei der Frau sind nach der Hirntoddefinition mit dem Status einer Leiche vereinbar.

Was soll man Angehörigen sagen oder auch Pflegekräften, die dies alles als Zeichen von Leben interpretieren? Der Organspender wird für tot erklärt, aber hinterher in den Operationssaal gefahren, wo ein Anästhesist mit einer Narkose dafür sorgt, dass er keine Reflexe mehr zeigt? Dass er garantiert nichts mehr spürt?

Wenn man aber davon ausgeht, dass sogenannte Hirntote keine Leichen sind, sondern Menschen, die sich noch im Sterbeprozess befinden – haben sie dann nicht ein Anrecht auf ein ungestörtes, möglichst begleitetes Sterben?

«Zu spät habe ich gemerkt, worauf wir verzichten mussten», sagt Renate Focke, «unser Sohn musste auf ein geschütztes Sterben, auf liebevolle Begleitung bis zum Tod und darüber hinaus und auf körperliche Unversehrtheit verzichten. Und wir auf einen ungestörten Abschied, der uns die Trauer leichter gemacht hätte.»

Auch Renate Greinert litt jahrelang darunter, dass sie ihren Sohn in der letzten Phase seines Lebens alleingelassen hatte. Dass sie nicht bei ihm sass und seine Hand hielt, bis er seinen ­letzten Atemzug tat. Dass sie ihn ­statt­dessen für die «grösste Operation seines Lebens» den Medizinern frei­gegeben hatte.

Wann ist ein Mensch tot?

Im Transplantationsgesetz, das in der Schweiz seit 2007 in Kraft ist, wird festgehalten, dass der Organspender zum Zeitpunkt der Organentnahme tot sein muss. Wie «tot», das überlässt der Gesetzgeber der medizinischen Wissenschaft. Die Richtlinien dafür, verfasst von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, sind per 1. September 2011 ­revidiert worden. Es wurden Präzisierungen vorgenommen, weil das Gesetz in der Praxis zu Unklarheiten geführt hatte. Neu braucht es für die Feststellung des Todes nicht mehr zwei Untersuchungen, zwischen denen sechs Stunden liegen, sondern zwei Ärzte untersuchen gleichzeitig und bestätigen die Diagnose des Hirntodes.

Transplantationsmediziner betonen zwar immer wieder, dass der Hirntod, der «totale und irreversible Funktions­ausfall des Gehirns», eine gesicherte und weltweit anerkannte Diagnostik zur Bestimmung des Todes sei. Die ­Debatte darüber, wann ein Mensch tot sei, wurde durch diese medizinische Definition bislang allerdings nicht beendet – im Gegenteil. Im Bestreben, dem chronischen Mangel an Organen Abhilfe zu schaffen, wurde in den letzten Jahren eine weitere Tür geöffnet, die der Verunsicherung eher noch Vorschub leistet.

«Aufgrund der bestehenden Organknappheit zieht man heute in einigen Ländern eine Organent-nahme auch dann in Erwägung, wenn ein Patient oder eine Patientin auf einer Intensivstation nach ­einem Herz-Kreislauf-Versagen verstirbt. Man spricht von Non-Heart-Beating-Donors (NHBD) oder auch von Donors After Circulatory Death (DCD) – «von Spendern also, bei denen das Herz nicht mehr schlägt», so das Bundesamt für Gesundheit. Weil die Organe, die eventuell transplantiert werden könnten, durch die fehlende Durchblutung schnell geschädigt werden, drängt hier die Zeit noch mehr.

Umstrittene Todesdefinitionen

Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften sehen hierfür eine Wartezeit von mindestens zehn Minuten vor, bis nach dem Herzstillstand der Funktionsausfall des Gehirns gesichert festgestellt werden kann und damit das Kriterium des Hirntodes erfüllt ist. In einem Kommentar erklärt die Akademie, «dass nach einem Kreislaufstillstand nach zehn Minuten der Funktionsausfall des Gehirns in jedem Fall total und irreversibel» sei.

Damit wird vermieden, zwei unterschiedliche Definitionen von «tot» ins Gesetz übernehmen zu müssen. Der Hirntod bleibt das eindeutige Kriterium, er muss bei DCDs in der Schweiz allerdings nicht mehr festgestellt werden, sondern wird lediglich prognos­tiziert: «Zusatzuntersuchungen sind nicht notwendig, da der dokumentierte Kreislaufstillstand (…) über einen Zeitraum von zehn Minuten eine genügende Hirndurchblutung ausschliesst», heisst es in den Richtlinien der Akademie.

Das ist nicht unbestritten und kann wie bei der Einführung der Hirntotkriterien als weitere Vor­verlegung des Todeszeitpunktes in­ter­pretiert werden. Denn jeder Rettungssanitäter kann bestätigen, dass Re­animationen nach einem Herzstillstand auch nach längerer Zeit – wenn auch selten – noch erfolgreich sein können. Wenn ein Mensch reanimiert werden kann, kann er aber vorher nicht tot gewesen sein.

Deutsche Ärztevereinigungen haben dagegen noch 1998 in einer Stellungnahme klar festgehalten: «Ein Herz- und Kreislaufstillstand von zehn Minuten bei normaler Körpertemperatur ist bisher nicht als Äquivalent zum Hirntod nachgewiesen und kann deshalb nicht die Todesfeststellung durch Nachweis von sicheren Todeszeichen ersetzen.» Deshalb ist in diesem Fall eine Organspende in Deutschland verboten.

Die Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann, die sich seit Jahren mit der Geschichte der Transplantationsmedizin auseinandersetzt, hat in einem Aufsatz das grundsätzliche ethische Problem zusammengefasst: «Es wurzelt in den durch eine Organ­ent­nah­me berührten Tabus, deren ethisches Fundament mit der Organ­gewinnung aus dem Körper von Hirntoten kollidiert.

Kurz: Zwei sich ­widersprechende Ethiken ­stehen in einem konkurrierenden Verhältnis: Auf der einen Seite geht es um die potenzielle Lebensrettung durch Organspenden, auf der anderen Seite sind damit Tabuüberschreitungen verbunden, die unsere Vorstellungen über Menschenwürde, medizinische Ethik und den sozialen Umgang mit einem sterbenden sowie toten Menschen aus den Angeln heben.»

Die wichtigen letzten Fragen

Tot oder noch im Sterbeprozess? Die unterschiedlichen Meinungen dar­über sind vermutlich dafür verantwortlich, dass die grosse Mehrheit von Menschen darauf verzichtet, einen Spenderausweis auszufüllen. Die kulturellen Vorstellungen von Tod und Sterben und von der Würde, die mit diesen geheimnisvollen Vorgängen verbunden sind, können medizinische Definitionen und Kriterien eben nicht aus der Welt schaffen. Oder wie es der deutsche Ethikprofessor Ralf Stoecker auf den Punkt bringt: «Der Tod, mit dem es die Mediziner in der Transplanta­tion zu tun haben, ist nicht mehr der Tod, der die moralische Grundannahme über den Tod so selbstverständlich erscheinen lässt.»

An einem Sterbebett zu sitzen, ist eine Ausnahmesituation. Angehörige sind total überfordert, wenn sie – überrascht von den Fragen der Transplantationsmediziner – den Willen des Sterbenden nicht kennen. Und das ist die Regel. Man hat eben nie zuvor ­darüber geredet, vielleicht noch nicht einmal dar­über nachgedacht: über den Tod, das Sterben, die Angst, die Wünsche für die Beerdigung. Für Angehörige, die an einem Sterbebett sitzen, bedeutet es eine grosse Erleichterung, wenn sie wissen, was der Sterbende über den Tod gedacht hat.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12

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