Vor 25 Jahren nahm die Fichenaffäre ihren Lauf. Die Schweiz erschien als Schnüffelstaat. Die Empörung war gross. Im aktuellen Datenskandal bleibt es ruhig. Wieso, zeigt die Geschichte der Fichenaffäre.
Dilettantisch sei das schon nicht mehr. Nein, völlig versagt habe der schweizerische Staatsschutz. Die Bundespolizei habe ihre Arbeit widerrechtlich, willkürlich, unsachgemäss und konzeptlos verrichtet. Zu diesem Schluss kam die Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK), die vor genau 25 Jahren den Staatsschutz durchleuchtete. Was die PUK zutage förderte, wuchs sich in kurzer Zeit zu einem immensen Datenschutzskandal aus. Als «Fichenaffäre» ist er in die Schweizer Geschichte eingegangen. Welche Geschichte verbirgt sich hinter dem Skandal?
Es begann mit einem Blick in die Schränke der Bundespolizei, einem zentralen Organ des Staatsschutzes. Dort entdeckte die PUK ein leibhaftiges Monster. Das Ungetüm bestand aus Papier, genauer aus über einer Million Karteikarten, sogenannten Fichen, und Tausenden von Akten. Darauf waren Informationen zu über zehn Prozent der Schweizer Gesamtbevölkerung zusammengetragen. Um beim Staatschutz vermerkt zu werden, hatte es offenbar genügt, wenn man an einer Demonstration teilgenommen, sich gewerkschaftlich engagiert oder neben einem verleumderischen Nachbar gewohnt hatte.
Empörend war nicht nur die Anzahl der Fichen. Auch ihre Qualität war schier unglaublich.
Empörend war nicht nur die Anzahl der Fichen. Auch ihre Qualität war schier unglaublich. Auf den Fichen mischten sich Fehler mit Groteskem, Banales mit Bedrohlichem. Ein junger Basler wurde etwa erfasst, weil er sich für einen Vortrag über «das kritische Denken bei Kant» angemeldet hatte. «Kritisch» – das war schon verdächtig! Oder ein Waadtländer Bauer geriet ins Visier der Polizei, weil er in Bern zufällig vor der ungarischen Botschaft parkiert hatte. Der WWF wurde fichiert, weil er eine Velo-Demo für die Anti-Atom-Initiative unterstützt hatte. Und über die Schweizerische Frauenvereinigung war aktenkundig, dass die Aktivistinnen während einer verregneten Demonstration eine Kaffeepause im Berner Hotel Metropol eingelegt hatten…
Eine kleine Staatsaffäre wird gross
Warum erfuhr die Öffentlichkeit überhaupt von den Fichen? Auslöser war der Rücktritt von Elisabeth Kopp. Die erste Frau im Bundesrat hatte Interna aus der Bundesanwaltschaft an ihren Ehemann weitergegeben. Hans Kopp legte aufgrund des Insider-Tipps sein Verwaltungsratsmandat einer Firma nieder, gegen die ein Geldwäschereiverfahren lief. Als die Indiskretion publik wurde, leugnete Elisabeth Kopp den Vorfall zunächst. Dann versuchte sie, die Schuld einer untergeordneten Beamtin in die Schuhe zu schieben. Unter dem steigenden öffentlichen Druck musste die FDP-Bundesrätin ihr Fehlverhalten schliesslich zugeben. Am 12. Januar 1989 trat Kopp zurück. Die Schweiz hatte eine kleine Staatsaffäre.
Um die Affäre zu bewältigen, setzten National- und Ständerat eine PUK ein. Unter dem damaligen Nationalrat Moritz Leuenberger sollte einerseits Kopps Rücktritt und andererseits die Arbeitsweise der Bundesanwaltschaft, zu der die Bundespolizei gehörte, untersucht werden.
Der Rücktritt war schnell geklärt. Abgesehen von der Indiskretion und vom katastrophalen Krisenmanagement hatte sich Elisabeth Kopp tadellos verhalten. Skandalträchtiges kam aber bei der Bundesanwaltschaft ans Licht. Die Fichensammlung führte zu einem zusätzlichen Bericht. Diverse Hilfskarteien, ein zweites Aktensystem beim Militär und die Geheimarmee P-26 kamen zum Vorschein. Jetzt hatte die Schweiz eine veritable Staatsaffäre.
Wenn der Feind verschwindet
1990 war die Fichenaffäre in aller Munde. Der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) erzählte dem Autor und späteren tschechischen Präsidenten Vaclav Havel (1936–2011) vom «Gefängnis Schweiz», in dem sich alle gegenseitig bespitzelten. 35’000 Personen demonstrierten 1990 in Bern gegen die Fichierung, die «Volksinitiative gegen den Schnüffelstaat» wurde aufgegleist, Intellektuelle einigten sich auf einen Boykott der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft.
Zur selben Zeit verschwand die Sowjetunion von der Landkarte. Als die PUK ihren explosiven Bericht veröffentlichte, war die Berliner Mauer seit gerade einmal 14 Tagen gefallen. Damit war der Kalte Krieg endgültig vorbei. Und mit ihm das Schreckensszenario einer roten Invasion aus dem Osten. Den kommunistischen Feind, vor dem die Bundespolizei die Schweiz hatte schützen wollen, gab es nicht mehr.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet für den Staatsschutz war das Ende des «real existierenden Sozialismus» ein Problem.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet für den Staatsschutz war das Ende des «real existierenden Sozialismus» ein Problem. Vor wem musste die Schweiz jetzt beschützt werden? Die Situation war unübersichtlich. Kommunisten und Linksextreme hatten während eines halben Jahrhunderts ein klares Feindbild abgegeben. Als die Sowjetunion in den 1980er-Jahren an Bedeutung verloren hatte, verzichtete die Bundespolizei aber auf eine grundlegende Neubeurteilung der Lage. Stattdessen übertrug sie ihre hergebrachten Methoden auf die Aktivistinnen und Aktivisten der neuen Frauenrechts-, Jugend- oder Anti-AKW-Bewegung.
Nur so erklärt sich, wieso die Bundespolizei in einem Waadtländer Bauern, einer Gruppe Feministinnen oder dem WWF mögliche Staatsfeinde erkannte. Dass diese im Gegensatz zu den Kommunisten der 1950er keine Revolution, sondern einzig gewisse gesellschaftliche Bereiche verändern wollten, war offensichtlich. Diesen Wandel hatte der Staatsschutz vollkommen verpasst.
Keine Verlierer
Die Fichensammlung wurde dann publik, als sie nutzlos geworden war. In der Fichenaffäre gab es entsprechend keine Verlierer. Die Linken konnten den «Schnüffelstaat» zurückdrängen und den Datenschutz vorantreiben. Die Rechten konnten der Schlamperei bei der Polizei Einhalt gebieten und die Bundesanwaltschaft restrukturieren. Und sogar die Bundespolizei profitierte: Die Kartei, die keinen interessierte und in der mit einer veralteten Technologie punktuell und zufällig Informationen erfasst wurden, löste man auf. Dafür wurde 1994 die Staatsschutzdatenbank Isis in Betrieb genommen, ein elektronisches Informationssystem, das weit umfassendere Recherchen erlaubte.
In der Fichenaffäre hatte sich die Bevölkerung aufgrund eines Systems empört, dessen Haltbarkeitsdatum bereits abgelaufen war. Das betraf nicht nur die Technologie und den Wechsel vom Karteikasten zum Computer, sondern auch das Feindbild. Vor wem musste die Schweiz jetzt beschützt werden? Spätestens nach dem 11. September 2001 liess sich diese Frage klar beantworten: vor Terroristinnen und Terroristen.
Auf digitalen Wolken
Während die Terroristen immer gefährlicher erschienen, weitete der Staatsschutz seine Zugriffe auf unsere persönlichen Daten aus. Im 21. Jahrhundert lesen die Geheimdienste unsere digitale Spur mit geringem Aufwand. 2014 funktioniert die Überwachung nicht mehr willkürlich und punktuell, sondern automatisch und flächendeckend. Seit Edward Snowdens Enthüllungen über die Machenschaften des US-Geheimdienstes NSA ist jeder Zweifel ausgeräumt, dass unsere Privatsphäre dabei systematisch verletzt wird. Fraglich ist nur, wo die Empörung über den neusten grossen Datenschutzskandal bleibt, wieso keine Programme abgestellt und keine Dateien vernichtet werden?
Darauf gibt es eine einfache Antwort. Anders als die Enthüllungen der PUK von 1989 betreffen Snowdens Informationen ein funktionierendes System. Davon profitieren viele: Politiker, die sich über das Thema Sicherheit profilieren, Staatsschützerinnen, die ihren Einfluss ausweiten, oder IT-Firmen, die grosse Staatsaufträge einstreichen. Im Gegensatz zum Kalten Krieg, der 1989 vorbei war, läuft der Krieg gegen den Terror heute auf Hochtouren. Im Gegensatz zu den Fichen, die 1989 bereits verstaubten, spielt die globale elektronische Überwachung heute eine absolut zentrale Rolle. Solange das zutrifft, wird niemand bereit sein, die politischen Kosten zu tragen, die eine Abschaltung der Überwachungsprogramme bedeuten würde.
Vielleicht ist der Fall Snowden aber auch ein Indiz dafür, dass die aktuelle Überwachungspraxis ihren Zenit schon überschritten hat. Dass Edward Snowden derart sensible Daten veröffentlichen konnte, zeugt zumindest von Systemversagen. Zwar hat sich das Monster im Schrank in eine digitale Wolke verwandelt. Aber vielleicht ist Big Data für den Staatsschutz noch eine Nummer zu gross.
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*Hannes Mangold ist Doktorand an der Professur für Technikgeschichte der ETH Zürich. Er forscht zu polizeilichen Informationssystemen und Datenschutz.