Vor 50 Jahren brachte Rachel Carson mit dem Buch «Der stumme Frühling» das ökologische Bewusstsein in die Welt. Ihr Werk ist heute noch hochaktuell.
Nahe einem Bach im Südosten Englands, 1961: Der Vogelbeobachter J. A. Baker wird Zeuge einer bewegenden Szene. «Ein Fischreiher lag im vereisten Gestrüpp. Seine Flügel waren am Boden festgefroren, seine Augen lebendig, der Rest des Körpers reglos. Als ich mich näherte, sah ich, wie das Tier mit aller Kraft zu fliegen versuchte. Es konnte nicht. Ich erlöste den Vogel.»
Das Leiden des Tieres hatte keine natürliche Ursache, und sein Schicksal blieb kein einzelnes. In jenem Jahr wurden in Grossbritannien Tausende toter Vögel gefunden: Lerchen, Moorhühner, Gold- und Buchfinken, Sperber, Nebelkrähen, Rebhühner, Fasane, Holztauben. «Es war eine regelrechte Schwemme», sagt Martin Harper, Naturschützer der Royal Society for the Protection of Birds. Und das Sterben beschränkte sich nicht auf Grossbritannien. In den USA verschwanden die Weisskopfseeadler. Forscher stellten fest, dass die Tiere kaum Eier legten oder sie nicht ausbrüteten. Mit den Vögeln der westlichen Hemisphäre stimmte etwas nicht.
Kritik an industrieller Praxis
Man spekulierte über die Ursachen, niemand kannte die Antwort – bis auf die amerikanische Biologin und Autorin Rachel Carson. Sie hatte sich in jenem Jahr in ihr Ferienhaus zurückgezogen, um in einem Buch zu erklären, woran all die Vögel starben. Carson war überzeugt, dass synthetische Pestizide wie DDT die Nahrungsketten vergiftet hatten. «Fast überall, ob auf Farmen, in Gärten, Wäldern oder Wohnungen, werden heute Sprays, Pulver und Aerosole eingesetzt», schrieb die Biologin. «Chemische Gifte, die unterschiedslos alle Tiere töten, gute wie schlechte. Sie bringen den Gesang der Vögel zum Verstummen, bedecken die Blätter mit tödlichen Belägen und reichern sich im Boden an – und all das nur, damit wir ein paar Unkräuter oder Insekten loswerden.»
Vor Carson hatten schon andere Experten vermutet, dass moderne Pflanzenschutzmittel eine schwer einschätzbare Bedrohung darstellen. Aber keiner von ihnen konnte so gut schreiben wie sie. Im Sommer 1962 veröffentlichte die Zeitschrift «New Yorker» Carsons Text als Serie, im September erschien «Silent Spring – Der stumme Frühling» als jenes Buch, das bis heute eine der wirkungsvollsten Kritiken industrieller Praktiken darstellt und weithin als das Werk gilt, das erstmals ein breites ökologisches Bewusstsein in den USA und Europa geschaffen hat.
Friends of the Earth und Greenpeace führen ihre Wurzeln direkt auf Carsons Buch zurück. «In den 1960ern fingen wir gerade erst an zu verstehen, in welchem Masse wir imstande sind, die Natur zu zerstören», sagt der ehemalige Friends-of-the-Earth-Direktor Jonathon Porritt heute. «Rachel Carson war die Erste, die diese Bedenken auf eine Weise artikulierte, die die Gesellschaft auch erreichte.»
Rachel Carson besass eine seltene Kombination von Fähigkeiten: Sie war eine ebenso fähige Meeresbiologin wie Autorin, ihr Stil war präzise, gleichzeitig aber gefühlvoll und lebendig. Allerdings ist «Der stille Frühling», anders als ihre übrigen Bücher, doch überraschend schwer zu lesen. «Es ist dicht und äusserst fachsprachlich gehalten – kein Buch, das man am Strand liest», sagt der Ornithologe Conor Mark Jameson, Autor von «Silent Spring Revisited», in dem er Carsons Vermächtnis aus Sicht der Gegenwart neu in Augenschein nimmt.
Carson wollte ja weit mehr, als nur dem Pestizid-Einsatz ein Ende zu setzen. «Sie hatte beschlossen, das in den USA damals dominante Paradigma des wissenschaftlichen Fortschritts infrage zu stellen», sagt ihr Biograf Mark Hamilton Lytle. «Das war mutig. Selbst legitime Kritik an der Regierung war in den USA damals ein riskantes Unterfangen.»
«Wissenschaft und Technik wurden als Retter der freien Welt und als Garanten des Wohlstands angesehen», bestätigt Linda Lear, die ebenfalls eine Biografie Carsons verfasst hat. «In ‹Der stumme Frühling› setzt sie die Wissenschaft dem kritischen Blick der Öffentlichkeit aus und macht deutlich, dass die Forscher bestenfalls ihre Hausaufgaben nicht gemacht und schlimmstenfalls mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten hatten.»
Es handelte sich bei dem Buch also nicht nur um eine ökologische Warnung, sondern um einen Angriff auf den Paternalismus der Wissenschaft nach dem Krieg – auch wenn man vielen Wissenschaftlern zugutehalten muss, dass sie Carson mit Hintergrundmaterial versorgten, um den Reaktionen der Industrie vorauszugreifen.
«Kinderlose alte Jungfer»
Und die US-Chemiegiganten enttäuschten die Erwartungen nicht. Als sie mit einer Klage gegen Carson, den «New Yorker» und Carsons Verleger Houghton Mifflin keinen Erfolg hatten, initiierten sie eine 250 000-Dollar-Kampagne, um Carson und ihre Botschaft zu vernichten. Man unterstellte ihr Hysterie und Unwissenschaftlichkeit. Ein US-Landwirtschaftsminister fragte gar, warum «eine kinderlose alte Jungfer sich denn so sehr für Genetik» interessiere. Eines ihrer schlimmsten Vergehen war offenbar, dass sie den ihr zugewiesenen Platz als Frau verlassen hatte.
Obwohl sie an Brustkrebs erkrankt war und unter den Folgen der Bestrahlung litt, wehrte sich Carson. Öffentlich kritisierte sie die Verbindungen, die sich zwischen Wissenschaft und der Industrie etabliert hatten. «Wenn eine wissenschaftliche Organisation spricht, wessen Stimme hören wir dann?», fragte sie: «die der Wissenschaft oder die der Industrie, die sie unterstützt?» Eine Frage übrigens, die heute so aktuell ist wie vor 50 Jahren.
Die Aufregung hatte zur Folge, dass «Der stumme Frühling» sich bis zu Carsons frühem Tod im Jahr 1964 eine Million Mal verkaufte. Gedrängt, seine Meinung über das Buch zu äussern, bekundete Präsident John F. Kennedy sein Interesse und wies das wissenschaftliche Beratergremium der US-Regierung schliesslich an, Carsons Kritik zu prüfen. Der Abschlussbericht bestätigte ihre Ergebnisse. Der ausgiebige Einsatz von Pestiziden führt dazu, dass sich Gifte in der Nahrungskette ansammeln und stellt damit auch eine Gefahr für den Menschen dar. Zehn Jahre und zwei Präsidenten später wurden die Produktion und der Einsatz von DDT in der Landwirtschaft in den USA verboten.
Carsons Gegner können das nicht vergessen. Noch immer findet sich auf Internetseiten die Behauptung, die Biologin sei eine Massenmörderin. Mit den Todesfällen durch Malariaerkrankungen, die auf das Verbot von DDT zurückgingen und die man andernfalls unter Kontrolle gehabt hätte, habe sie mehr Menschen auf dem Gewissen als die Nazis. Der US-Klimatologe Michael E. Mann beschreibt die Strategie, «Symbolfiguren anzugreifen, wann immer sich die Gelegenheit bietet». Wenn man sie mit genügend Dreck beworfen habe, müsse schliesslich auch deren gesamtes Anliegen fragwürdig erscheinen. Dabei ist der Vorwurf des «Massenmords» klar haltlos, wie Wissenschaftshistoriker wissen: DDT wurde nicht nur verboten, weil es sich in der Nahrungskette festsetzt, sondern auch weil die Mücken, auf die das Gift abzielt, Resistenzen gegen DDT entwickelt hatten.
Eine Botschaft bleibt ungehört
Carsons Warnungen sind noch heute aktuell, sowohl was die Gefahr von DDT und verwandter Chemikalien im Besonderen angeht als auch in Bezug auf die allgemeinen ökologischen Gefahren. Fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung von «Der stumme Frühling» stellt sich im Angesicht der Erderwärmung, des steigenden Meeresspiegels und zerfallender Korallenriffe aber die Frage, ob sich die Umwelt nicht in grösserer Gefahr denn je befindet.
«Heute erleben die Weltmeere jene Gräuel, die ‹Der stumme Frühling› für das Festland beschrieben hat», sagt der Ozeanograf Callum Roberts von der Universität York. «Die Meere sind die ultimativen Abfallgruben. Chemikalien werden aus dem Boden gespült und gelangen in die Flüsse. Eigentlich sollten sie sich am Meeresboden ablagern und dort bleiben. Der Fischfang hat aber eine solche Intensität erreicht, dass wir diese Gifte, DDT inbegriffen, permanent aufwühlen und sie wieder ins Wasser bringen.» Und auch an Land hat sich die Lage keineswegs verbessert. Sogenannte Neonicotinoide für den Schutz von Saat- und Pflanzgut werden mit der Colony Collapse Disorder in Verbindung gebracht – einer Erkrankung, der 2007 allein 800 000 Bienenvölker zum Opfer gefallen sind. In Asien wurden die Geier durch den Einsatz von Diclofenac ausgerottet. Wie Carson schrieb: «So ist der chemische Krieg niemals gewonnen, und in seinem Kreuzfeuer bleibt alles Leben auf der Strecke.»
Gefährliche Macho-Manier
«Carson glaubte, dass wir ein Gleichgewicht zwischen uns und der Natur brauchen. Aber der Drang, die Welt in Macho-Manier zu beherrschen, scheint heute so stark zu sein wie 1962», sagt Porritt. «Wir haben viel geringere Fortschritte gemacht, als wir damals hofften.» Martin Harper von der britischen Royal Society for the Protection of Birds sieht es ähnlich. «Es hat zehn Jahre gedauert, bis DDT verboten wurde, nachdem erwiesen war, welche Folgen es hat. Und so verhält es sich bis heute. Wenn Experten vor einer Chemikalie warnen, warten die Regierungen ab, bis der letzte Zweifel ausgeräumt ist. Dann fordern sie freiwillige Massnahmen der Industrie. Und erst wenn das zu nichts führt, werden Verbote ausgesprochen – Jahre zu spät.»
Was also ist Rachel Carsons Vermächtnis? Mehr als jeder andere hat sie dazu beigetragen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welches Potenzial zur ökologischen Zerstörung die Menschheit hat. Aber es ist klar, dass die Erde sich heute in einem weitaus schlechteren Zustand befindet als 1962. Die Weltbevölkerung hat sich mehr als verdoppelt. Die Meere sind leergefischt, viele wildlebende Tiere wurden ausgerottet.
«Der stumme Frühling hat eine klare und wichtige Botschaft formuliert: dass alles in der Natur mit allem zusammenhängt», sagt Porritt. «Trotzdem haben wir diesen Gedanken nicht in vollem Umfang beherzigt oder seine Bedeutung nicht gänzlich verstanden. Ich denke, Carson wäre entsetzt.»
Copyright: Guardian News & MediaLtd 2012, Übersetzung: Holger Hutt
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.06.12