Dein Krieg, mein Krieg, unser Krieg

Videogames können so viel mehr sein als sinnentleerter Zeitvertreib. Zur aktuellen Flüchtlingskrise demonstrieren das insbesondere die Spiele «This War of Mine» und «Papers, Please» auf eindrückliche Weise.

Das Videogame «This War of Mine» versetzt Spieler in die Lage von Kriegsopfern.

Videogames können so viel mehr sein als sinnentleerter Zeitvertreib. Zur aktuellen Flüchtlingskrise demonstrieren das insbesondere die Spiele «This War of Mine» und «Papers, Please» auf eindrückliche Weise.

Was in Gamerkreisen längst eine Selbstverständlichkeit ist, sorgt in der breiten Bevölkerung nach wie vor für hochgezogene Augenbrauen: Dabei können Videospiele mehr sein als lustiger Zeitvertreib und weit über simple Realitätsflucht hinausgehen. Wer sich an den Rändern des Massengeschmacks auf Experimente einlässt, dem eröffnen Rollenspiele völlig neue Perspektiven auf die Welt.

Die Redewendung «in jemandes Haut schlüpfen» ist wohl die beste Analogie hierfür. Was ehedem Büchern, Reportagen und Dokumentarfilmen vorbehalten war, wird heute in Ansätzen auch von Videogames erfüllt. Indem Spieler die Verantwortung für das Leben eines Charakters übernehmen, nehmen sie auch an ihren Handlungen und Entscheidungsprozessen aktiv teil.

Im Kontext des aktuellen Themas «Flüchtlingspolitik» sind es insbesondere zwei preisgekrönte Indiegames, die das veranschaulichen. Der Spieler kann virtuell erfahren, was es bedeutet, am eigenen Leib und Leben gefährdet zu sein. Die Konsequenzen eines bewaffneten Konflikts werden auf diese Art unmittelbarer erfahrbar, als es in anderen Medienformaten möglich ist.

«This War of Mine» – zuerst das Fressen, dann die Moral

Wer an Kriegsspiele denkt, dem werden als Erstes wohl Big-Budget-Egoshooter wie «Call of Duty» einfallen. Vielleicht auch etwas Strategisches wie «Men of War», aber ziemlich sicher wird es ein Spiel sein, in dem der Spieler aus der Perspektive des Soldaten agiert. Bei solchen Spielen wird im Interesse eines möglichst hohen Spassfaktors ausgeklammert, dass Krieg fast nur Opfer hervorbringt.

In «This War of Mine» wird der Spieler Teil einer Gruppe Zivilisten, die sich mitten im Krieg in einem Gebäude verschanzt haben. Tagsüber müssen sie sich vor Scharfschützen verstecken, nur nachts ist es draussen sicher genug, um auf Lebensmittelsuche zu gehen. Der Alltag wird zur Gewissensprüfung. Frei nach dem Motto «Zuerst das Fressen, dann die Moral» muss der Spieler mehr oder weniger ethisch vertretbare Entscheidungen treffen, um sein Überleben und jenes der Gruppe zu sichern. Allianzen schliessen, sich demütigen lassen, selbst zum Mörder werden: Die Verantwortung, die der Protagonist nicht nur für sich, sondern für alle anderen im Haus trägt, zermürbt zunehmend.

Dieses Kriegsspiel macht keinen Spass. Das soll es auch nicht. Die «Zeit» hat es als «das traurigste Spiel des Jahres» betitelt. Ein treffendes Urteil. Für die Ausarbeitung der Szenarien im Spiel haben die Entwickler Berichte der Kriege in Bosnien und Syrien verwendet sowie Auszüge von Tagebüchern aus dem Warschauer Ghetto.

«Papers, Please» – in der Haut des Gegners

Der Rollentausch funktioniert auch in die hierarchisch andere Richtung. Statt wie in «This War of Mine» in der Situation des machtlosen Zivilisten zu sein, kann man auch als Funktionär eines totalitären Staates agieren. In «Papers, Please» sitzt der Spieler bequem – anfänglich zumindest – auf dem Bürosessel hinter einem Zollschalter. Wir nehmen die Rolle eines namenlosen Beamten ein, der per Los dem Grenzdienst zugewiesen wurde. Eine Figur also, mit der uns auf den ersten Blick so gut wie keine Gemeinsamkeiten verbinden, und mit der sich wohl die wenigsten identifizieren können.

Im fiktiven (aber offensichtlich der ehemaligen UdSSR nachempfundenen) Land Arstotzka ist es unsere Aufgabe, Pässe zu kontrollieren, gefälschte Dokumente zu erkennen und die gelegentlichen Terroranschläge einer anarchistischen Gruppierung zu verhindern. Täglich kommen neue Regeln hinzu, Zeitungsmeldungen informieren uns über den Zustand der Nation und Einreiseverbote.

Um das Spiel erfolgreich zu beenden – und damit ist «lebend» gemeint –, müssen wir egoistisch handeln. Regeln, Prämien und Bestechungsgelder werden wichtiger als Menschlichkeit und Mitleid. Zu Hause sitzen Frau, Kinder und ein kranker Onkel. Häufig stellt sich die Frage, ob man am Ende des Tages mit dem Lohn Feuerholz oder Essen kaufen möchte. Je mehr man im Regelwirrwarr der ständigen Gesetzesänderungen versumpft, desto unbarmherziger wird man. Besonders, wenn man sich dadurch selbst Vorteile verschaffen kann. 

Die schleichende Verwandlung zum hässlichen Bürokraten

Nach einer Weile mutiert der Spieler zum Bürokraten aus der Hölle. Es geht erschreckend schnell, und man nimmt seine Rolle im Staat und die Verantwortung gegenüber Arstotzka erstaunlich ernst. Es wäre nicht verwunderlich, wenn uns beim Spielen ein energisches, halb stolzes «Glory to Arstotzka!» rausrutschen würde. 

Nur wenn alle paar Tage wieder einmal der alte Jorji Costava an den Schalter tritt mit seinen selbstgebastelten Pässen und seinem traurigen Charme, erwacht man für einen Moment aus dem Trott des roboterartigen Grenzwächteralltags. Wer kein Bedauern empfindet, den Guten nicht durchwinken zu können, besitzt ein Herz aus Stein.

Es mag manchen absurd erscheinen, sich mit einem systemkonformen Uniformträger zu identifizieren. «Niemals würde ich einem solchen Zynismus verfallen, es muss doch einen ethischen Weg geben, mit den Einwanderern vor Arstotzkas Toren fertig zu werden», mag man denken. Aber: Nach dem vierten Spieltag fehlen lediglich Abzeichen und Mütze, und schon könnte sich der Spieler an die Grenze stellen.

Versuchen Sie es! «This War of Mine» respektive «Papers, Please» sind für wenig Geld zum Download erhältlich. Lassen Sie sich auf ein Experiment ein. Sie werden staunen, zu was das virtuelle, fiktive «ich» fähig ist. Und die Welt mit anderen Augen sehen.

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«This War Of Mine»: PC, Mac, iOS, Android, $14.99

«Papers, Please»: PC, Mac, Linux, $9.99

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