Dem Tatort auf der Spur

Das Ermittler-Team Münster beschert dem Tatort seit zehn Jahren beste Quoten. Und steht für einen sicheren Wert in einer sich wandelnden TV-Reihe, die Gefahr läuft, Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden.

Im Laufschritt zum nächsten Tatort: Boerne (Jan Josef Liefers) und Alberich (Christine Urspruch), das komische Rechtsmedizin-Duo aus Münster. (Bild: WDR/Wolfgang Ennenbach)

Das Ermittler-Team Münster beschert dem Tatort seit zehn Jahren beste Quoten. Und steht für einen sicheren Wert in einer sich wandelnden TV-Reihe, die Gefahr läuft, Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden.

Popularität hat ihren Preis. «Nicht alle Kritiker, vor allem die Krimi-Puristen, goutierten, dass neben den skurrilen Fällen die Komik des Ensembles dominant im Vordergrund der Filme steht», schreibt der sogenannte Tatort-Koordinator Geb­hard Henke im Presseheft zum 22. Fall von Thiel und Boerne am kommenden Sonntag. Anlass für das Grusswort ist das zehnjährige Bestehen des Tatorts Münster. Was es dem WDR-Fernsehredakteur so leicht macht, über Kritik an seiner Arbeit zu sprechen, sind die Quoten der «Crime-and-Smile-Produktionen» (Henke): Der Tatort Münster ist in dieser Hinsicht das beste Pferd im Stall. Die Thiel-und-Boerne-Folgen bescheren verlässlich über 10 Millionen Zuschauer, was die Verantwortlichen mit Stolz erfüllt und vergessen lässt, dass Einschaltquoten an den werbefreien Wochenenden und Abenden im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eigentlich eine überflüssige Währung sind. Vergessen wird dabei auch, dass eine Binnenkonkurrenz der einzelnen Tatort-Schauplätze schon deshalb keinen Sinn macht, weil sie dem Wesen der Reihe widerspricht.

Unterschiedliche Qualität

Der Tatort ist keine Serie, und das Faszinierende an ihm ist, dass er auch dann massenhaft geguckt wird, wenn die letzten beiden Folgen öde waren – das Label Tatort verspricht dem Zuschauer etwas, das von den einzelnen Filmen nicht einmal eingelöst werden muss. Man schaut den Tatort nicht zuerst in Erwartung eines guten und spannenden Kriminalfilms, sondern man schaut den Tatort, weil man Tatort schaut. Das klingt etwas unbefriedigend, ist aber die überzeugendste Erklärung für den Erfolg einer Reihe, deren einzelne Filme qualitativ und ästhetisch so verschieden sind.

Das Label Tatort schafft einen Rahmen, durch den noch das Mittelmässige zum Fernsehereignis nobilitiert wird, weshalb die Rahmendaten für die Reihe wesentlicher sind als die einzelnen Filme.

Das war schon vor 42 Jahren so, als sich die ARD entschied, Herbert Reineckers beliebter Krimiserie «Der Kommissar» (1969 bis 1976) im ZDF etwas entgegenzusetzen. Die nachkriegsbedingte föderale Struktur des Ersten Deutschen Fernsehens, die wegen ihres bürokratischen Koordina­tionsbedarfs eigentlich ein Hemmnis darstellt für diktatorische Entscheidungen, wie sie der Kunst gut tun, wurde konsequent als Chance begriffen und liess sich überdies auf den deutschsprachigen Eurovisionsraum ausdehnen. Weil rasch Beiträge für die damals noch monatlich ausgestrahlte Reihe benötigt wurden, liefen unter dem Label Tatort auch Filme, die gar nicht in seinem Sinne gedacht waren: Der WDR-Zollfahnder Kressin (Sieghardt Rupp) wurde ursprünglich als deutscher TV-Bond konzipiert und dem ORF-Oberinspektor Marek (Fritz Eckhardt) konnte man auf den ersten Blick ansehen, dass er älter war als die Idee, die der Tatort vom Fernsehen hat – in den reinen Wiener Studio­inszenierungen war noch das Theater zu erkennen, an dem sich das Fernsehen bei seiner Einführung orientiert hatte.

Erhöhte Schlagzahl

Zum Synonym für den Sonntagabend ist der Tatort erst im Laufe der Zeit geworden. Seit den 90er-Jahren, als das öffentlich-rechtliche Fernsehen sich mit den aufgekommenen Privatsendern auseinandersetzen musste und von dort den Glauben an die Einschaltquote übernahm, hat sich die Schlagzahl der Ausstrahlungen rasant erhöht. Heute gibt es an jedem Sonntagabend einen neuen – die Sommerpause ausgenommen und die einzig verbliebene Alternative, den «Polizeiruf 110», nicht eingerechnet.

Die DDR-Krimireihe «Polizeiruf 110», die 1971 als Reaktion auf den Tatort ins Leben gerufen wurde, wirkt mittlerweile nur mehr als Reminiszenz an die deutsche Wiedervereinigung – der eigene konzeptionelle Entwurf wurde vor gut zehn Jahren drangegeben. So gesehen müsste der Polizeiruf eher früher als später im Tatort aufgehen.

Die Langlebigkeit des Tatorts wiederum verdankt sich zuerst seiner riesigen Integrationskraft. So ziemlich jeder Fernsehfilm, der etwas mit dem Genre Krimi zu tun hat und eine lokalisierbare, staatstragende Ermittlerfigur aufweist, kann da durchgehen.

Bedeutungsvoller Vorspann

Zum Tatort werden diese Filme erst durch den privilegierten Sendeplatz am Sonntagabend und den legendären Vorspann (die Titelmelodie von Klaus Doldinger kann man gratis runterladen). Wenn Til Schweiger im Frühjahr, nachdem seine Verpflichtung als Tatort-Kommissar bekannt geworden war, meinte, eben diesen Vorspann abschaffen zu müssen, weil er «outdated» sei, dann zeigte das, wie wenig er vom Wesen des Tatorts verstanden hat: Der Vorspann hält nicht nur die völlig verschiedenen Filme zusammen, sondern stiftet, da er praktisch nie verändert worden ist, eine Verbindung zur eigenen Geschichte. Gerade die für mediale Retro-Gefühle anfällige Generation der heute ungefähr Vierzigjährigen kann im Tatort bruchlos eine Zuschauerpraxis fortsetzen, die sie in den Kindertagen gelernt hat. Sonntagabend, nach 20 Uhr, ist derart zu einem Ritual geworden, an dem der Tatort als Schlusspunkt des Wochenendes einen letzten Ausflug ins Reich der Fiktionen erlaubt, ehe schon die Talksendung danach den Kater der anstehenden Arbeitswoche vorwegnimmt.

Die Integrationskraft des Tatorts erweist sich auch im Verhältnis zu wechselnden Moden der Zeit – weil der Tatort eine Reihe ist, kommt er tendenziell nie an ein Ende. Wenn eine Ermittlerfigur nicht funktioniert und altmodisch geworden ist, wie Götz Georges Schimanski Anfang der 90er-Jahre, dann wird das Personal einfach ausgetauscht.

Schaut man sich allerdings die jüngsten Personalplanungen an, die in diesem Jahr quasi im Wochentakt verkündet wurden, dann kann einen die Ahnung beschleichen, dass die Aufnahmefähigkeit selbst der besten Marke irgendwann an ihre Grenzen kommt: 21 Schauplätze (hinzu kommen vier «Polizeiruf»-Stationen) verzeichnet die aktuelle Landkarte auf der ARD-Website, zu denen mit zweimal Hamburg (Schweiger beziehungsweise Wotan Wilke Möhring), dem neuen Saarbrücken (Devid Striesow), Erfurt und dem Weihnachts-Spass-Tatort aus Weimar (Nora Tschirner, Christian Ulmen) fünf Reviere gehören, die noch nicht einmal eingeführt sind.

Drohende Gefahr

Auch wenn es in der Tatort-Geschichte genügend «Eintagsfliegen» gibt, wie die enzyklopädische Fan-Website tatort-fundus.de Auftritte von Kommissaren nennt, die es nicht zu einer zweiten Folge gebracht haben – die Wiedererkennbarkeit von und die Vertrautheit mit den Kommissarfiguren macht den Tatort aus. Die Fülle an neuen Schauplätzen bringt das Problem mit sich, dass man zum dritten Assistenten in Dortmund als Zuschauer dann kein Verhältnis mehr aufbauen kann, weil man zu sehr damit beschäftigt ist, sich an die neue Assistentin in Luzern zu gewöhnen und sich auf die Dreierbande in Erfurt vorzubereiten.

Der Tatort läuft also durchaus Gefahr, Opfer seines Erfolgs zu werden. Mit Ulrich Tukurs Lust-und-Laune-Auftritt als LKA-Mann Murot in Wiesbaden hat sich ein gewisser Kuhhandel etabliert: Der Tatort bekommt prominente Schauspieler, die sich normalerweise nicht auf die Rolle eines Fernsehpolizisten festlegen lassen würden, und kann damit in Zeiten der Digitalisierung noch mehr Aufmerksamkeit gewinnen.

Prominente Verpflichtungen

Dafür werden den grossen Namen Sonderkonditionen eingeräumt (ein Film im Jahr), die eine Identifizierung mit der Reihe erschweren. Til Schweigers Verpflichtung ist die Krönung dieser Entwicklung und sie berührt einen kritischen Punkt. Kein Tatort-Darsteller war bei Dienstantritt so prominent wie der vielleicht einzige deutsche Schauspieler, der die Bezeichnung «Star» verdient als Ausdruck seiner Marktmacht, wovon die Durchsetzung des «Zweiohrküken»-adäquaten Rollennamens Nick Tschiller (statt Tschauder) einen ersten Eindruck vermittelt. Es wird interessant sein zu beobachten, wie Schweiger in einer Reihe funktioniert, die eigentlich grösser ist als ihre Protagonisten – Götz George und Manfred Krug haben einst durch ihre Tatort-Rollen an Prominenz gewonnen, nicht umgekehrt.

Messen lassen wollen wird sich Schweiger vermutlich an den Quoten von Münster. Das Gespann aus dem muffeligen Kommissar Thiel (Axel Prahl) und dem schnöseligen Rechtsmediziner Professor Boerne (Jan Josef Liefers) nimmt im Feld der Kommissare tatsächlich eine herausgehobene Stellung ein, die mittlerweile auch durch Werbespots mit den beiden Schauspielern in ihren Rollen dokumentiert wird. Zu tun hat das mit der Komik, die in der neuesten Folge «Das Wunder von Wolbeck» recht pointiert inszeniert wird. Zu tun hat das aber auch mit der Inszenierung von «politischer Inkorrektheit» als scheinbar einziger Alternative zur gefühlten Gleichförmigkeit der anderen Tatort-Filme. Insofern ist «Das Wunder von Wolbeck» fast untypisch für Münster – es wird nämlich nicht ein einziger der sonst zwanghaften Witze über die Grösse von «Alberich» (Christine Urspruch) gemacht.

Man könnte das als Zeichen der Hoffnung nehmen, dass selbst Tatort-Kommissare dazulernen dürfen. Vermutlich ist die Erklärung aber banaler: Beim Tatort wechseln selbst an den einzelnen Schauplätzen Autoren und Regisseure, was dann zu verschiedenen Interpretationen des Stammpersonals führt und eine Entwicklung der Figuren unmöglich macht.

Quellen

Leseprobe «Herrlich inkorrekt. Die Thiel-Boerne-Tatorte», 136 Seiten,
Taschenbuch, Bertz + Fischer Verlag, Berlin.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.11.12

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