Demokratische Stosszeiten

Mit gut einjähriger Verspätung machte sich im Juli 1969 auch in Basel ein bisschen 68er-Geist bemerkbar. Die Progressiven Organisationen Basel probten die Konfrontation.

Gratistram, Gratistheater – die jungen Wilden Ende der 60er-Jahre erwarteten etwas vom Wohlfahrtsstaat. (Bild: Kurt Wyss)

Mit gut einjähriger Verspätung machte sich im Juli 1969 auch in Basel ein bisschen 68er-Geist bemerkbar. Die Progressiven Organisationen Basel probten die Konfrontation.

Öffentliche Protestdemonstrationen gehören zum Instrumentarium der Demokratie. Damit ein Minimum an öffentlicher Ordnung erhalten bleibt, sollten sie angemeldet und bewilligt sein. Diese Ordentlichkeit entsprach aber nicht dem radikalen Flügel der 68er-Bewegung, die es mit einer kleinen Zeitverschiebung auch in Basel ein wenig gab. Er inszenierte am 1. Juli 1969, an einem schönen Sommerabend, eine «Demo» gegen die von der Regierung beschlossene Tramtarif-Erhöhung beziehungsweise Teuerungsanpassung von 20 Prozent.

Zum sogenannten Sit-in, wie die damals üblichen, vor allem in Innenräumen wie Rektoraten und Vorlesungssälen praktizierten Sitzstreiks genannt wurden, hatten die POB, die Progressiven Organisationen Basel, aufgerufen. Der Aufruf war von bewegten Jugendlichen ausgegangen, von echten und weniger echt Studierenden, von Schülern und Lehrlingen. Ein weiteres Ziel – ausser der Rücknahme der Tariferhöhung – war die Vereinigung mit dem Volk. Bis zu einem gewissen Grad wurde dieses Ziel in diesem Fall erreicht. Anhand des Bildes mag man überprüfen, zu welchen Alterslagen die Abgebildeten gehören.

Die Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaates schienen Ende der 60er-Jahre unbegrenzt.

Es war eine halbstündige Blockade zur Abendstosszeit. Sie verlief gemäss der sprichwörtlichen baslerischen Verständigungsbereitschaft friedlich. Erst die Folgedemonstration, die zwei Wochen später stattfand und in der nächsten TagesWoche zum Bildthema gemacht werden wird, war von Gewaltbereitschaft und entsprechenden Ausschreitungen bestimmt.

Der weitere Verlauf dieses Intermezzos zeigt die Absorptionskraft der direkten Demokratie. Die neomarxistische POB und die altkommunistische PdA sammelten innert kürzester Zeit 6000 Unterschriften für eine Initiative zur Einführung des Gratistrams. Der Vorstoss schien populär. Die «National-Zeitung» unterstützte das Vorhaben. Kurz zuvor hatte «Dügg», der Direktor der Basler Theater, für den Besuch seiner Häuser ebenfalls den Nulltarif vorgeschlagen. 1972 wurde die Volksinitiative dann aber mit 87,4 Prozent Nein-Stimmen – was ein Rekord war – bachab geschickt.

Aus sozialutopischer Sicht erschienen die Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaats gegen Ende der Wachstumsphase der goldenen 60er-Jahre beinahe unbeschränkt. Doch etwa gleichzeitig zogen bereits dunkle Wolken auch am Basler Finanzhimmel auf. 1971 betrug das Staatsdefizit das Fünffache von 1964. Aber auch die POB, die als ausserparlamentarische Protestgruppe (APO) gestartet war, wuchs und zog in mehr als fünffacher Zahl ins kantonale Parlament. 1979 stellte sie mit einer jungen Ärztin, die in diesem Bildermuseum auch einmal auftauchen wird, sogar eine Nationalrätin.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.12.12

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