Der Fall Curt Glaser: Recht gegen Moral?

Das Kunstmuseum schuldet den Erben des jüdischen Sammlers keine Rückgabe der Kunstwerke. Anzunehmen, dass es sich dabei um Fluchtkunst handelt, ist vorschnell. Es gäbe aber die Möglichkeit, jenseits der gesetzlichen Verpflichtung zu handeln.

Wann beginnt die Notlage? Curt Glaser in seiner Berliner Wohnung in den 1920er-Jahren.

Im Mai 1933 konnte das Basler Kunstmuseum in Berlin 120 Papierarbeiten günstig ersteigern, darunter Arbeiten von Munch, Chagall, Corinth, Matisse, Kirchner, Kokoschka oder Rodin. Sie waren vom jüdischen Sammler Curt Glaser zur Auktion gegeben worden.

Museumsdirektor Otto Fischer präsentierte zu Hause seiner Kunstkommission die Erwerbung als «günstig», man habe zwar nicht gerade Schleuderpreise bezahlt, jedoch hätten sich die Kosten auf dem an sich niedrigen Niveau der Schätzpreise gehalten. Der Ankauf fand, wie der für den Kauf verantwortliche Fischer in seinem Protokoll festhielt, den «Beifall der Kommission».

2004 gelangte ein New Yorker Anwaltsbüro im Namen von Erben (bekannt ist insbesondere eine Grossnichte) mit einer Rückgabeforderung an den Kanton Basel-Stadt. Diese wurde 2008 aber abschlägig entschieden. Kürzlich ist der Fall erneut aufgegriffen worden.

BaZ desavouiert den eigenen Kulturredaktor

Das Schweizer Fernsehen hatte bereits früher über die Angelegenheit berichtet. Unlängst hielt es die «Rundschau» für richtig, nochmals darauf zurückzukommen, nachdem im Ausland im gleichen Fall verschiedene Werke zurückgegeben worden waren und die Raubkunstfrage durch das ans Berner Kunstmuseum gegangene Gurlitt-Erbe weiteren Auftrieb erhalten hat.

Die «Basler Zeitung» nutzte die Gelegenheit sogleich, um einmal mehr mit skandalisierenden Berichten von «Leichen im Keller» zu schreiben und damit die Aufmerksamkeit auch auf sich selber zu lenken. Sie scheute dabei nicht davor zurück, ihren eigenen Kulturredaktor Christoph Heim zu desavouieren, indem ihm erst von einem Gastautor vorgehalten wurde, er «taumle» von einem Standpunkt zum nächsten, und dann ein anderer Redaktor die weitere Berichterstattung übernahm.

Unter dem Eindruck dieser Publizität signalisierte das Basler Präsidialdepartement Gesprächsbereitschaft. Es will sogar die Papiere sichten – eine inhaltliche Stellungnahme steht aber noch aus.

Es geht um die Frage, ob die im Mai 1933 getätigten Auktionsverkäufe nach damaligem Recht und nach heutigen Gerechtigkeitsvorstellungen unanfechtbar sind.

Bei der Versteigerung im bekannten Auktionshaus Perl, die am 18. und 19. Mai 1933 stattfand, handelte es sich um eine der ganz frühen Auktionen, in denen sich deutsche Juden von ihrem Eigentum trennten, weil sie wegen der einsetzenden Verfolgung Deutschland verlassen wollten, und so ihre Emigration finanzierten.

Damaliges Recht und heutige Gerechtigkeit

Der publizistischen Reanimierung des vorgelegten Falls liegt die Frage zugrunde, ob die von Curt Glaser im Mai 1933 getätigten Auktionsverkäufe nach damaligem Recht und nach heutigen Gerechtigkeitsvorstellungen unanfechtbar sind.

Im Dezember 1998 waren im Zuge der internationalen Aufarbeitung der verfolgungsbedingten Vermögensverluste die Washingtoner Prinzipien «on Nazi-Confiscated Art» verabschiedet und auch von der Schweiz unterzeichnet worden. Damit war die Verpflichtung verbunden, Raubkunst zu identifizieren, die früheren Eigentümer oder jetzigen Erben ausfindig zu machen und einer «gerechten und fairen Lösung» zuzuführen.

Die inzwischen gefundenen Lösungen bewegen sich in einer grossen Spannweite: vom Anbringen einer Plakette mit Hinweisen auf den früheren Eigentümer über gemeinsamen Verkauf und Teilung des Erlöses in vereinbarten Prozentanteilen bis zur Restitution des Werkes.

Wichtig ist bei Fluchtkunst, ob der Verkauf unter Preis erfolgte, weil der Käufer die Notlage ausnutzte.

Die deutsche Bundesregierung strebte als Nachfolgestaat in allgemeiner Anerkennung des vom NS-Regime begangenen Unrechts mit ihrer weitergehenden, 2001 erlassenen und 2007 überarbeiteten «Handreichung» eine grösstmögliche Wiederherstellung früherer Eigentumsverhältnisse an. Darum fanden im Fall Glaser in Deutschland mehrere Restitutionen statt. Das niederländische Rijksmuseum hat ebenfalls ein Werk restituiert. Nicht so das Courtauld Institute of Art in London und zwei schweizerische Museen (neben Basel auch das Kunsthaus Zürich). Im britischen Case des genannten Instituts unterlagen die Erben Glasers vor dem UK Spoliation Advisory Panel.

Raubkunst oder Fluchtkunst?

Mit der deutschen Haltung erweiterte sich das Blickfeld von «Nazi-Confiscated Art» und klassischer Raubkunst auf die Kategorie des in der NS-Zeit «verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts». Und damit im Prinzip auch auf die Kategorie der Fluchtkunst.

Diese unterscheidet sich von der Raubkunst darin, dass die Werke ausserhalb des NS-Machtbereichs von den Eigentümern verkauft wurden, sicherlich erzwungen durch die Verfolgungsverhältnisse, aber doch aus «eigenem» Entscheid. Wichtig ist, zu welchem Preis der Verkauf stattfand, ob zu üblichen Marktpreisen oder unter Preis, weil der Käufer die Notlage ausnutzte.

Der Kaufakt des Basler Kunstmuseums ist nicht nur unter rechtlichen Aspekten, sondern unter dem kulturellen Gesichtspunkt zu respektieren, ja sogar zu würdigen.

Würde man die deutsche «Handreichung» allgemein als wegleitend verstehen, müssten sämtliche Emigrantenverkäufe – wo immer sie stattgefunden haben – Rückabwicklungen ausgesetzt werden, wobei unklar wäre, wie die Käufer entschädigt werden müssten. Naheliegenderweise gab Glaser einen Teil seiner Werke zunächst in eine Berliner Auktion.

Glaser hätte auch in der Schweiz versteigern können, wo es später mehrere Emigrantenauktionen gab. Wurden in der nun unter Nazi-Herrschaft durchgeführten Berliner Auktion besonders niedrige Preise erzielt? Experten gehen davon aus, dass die Preise andernorts – ob in der Schweiz oder in anderen Ländern – nicht besser gewesen wären. Sie lagen damals aus verschiedenen Gründen allgemein niedrig.

Das Basler Kunstmuseum hat mit seinem Kauf einen Akt getätigt, der nicht nur unter rechtlichen Aspekten, sondern unter dem kulturellen Gesichtspunkt zu respektieren, ja sogar zu würdigen ist. Dass die Erwerbungen der Kommission als «günstig», die Preise als «billig» präsentiert wurden, entsprach den damaligen Marktverhältnissen. Diese Rhetorik kann aber auch aus dem verständlichen Bedürfnis des für das Protokoll verantwortlichen Museumsdirektors Otto Fischer zu erklären sein, seiner Kommission das eigene Handeln als besonders erfolgreich zu präsentieren.

Helfer oder Profiteure?

Wenn sich Käufer an den tatsächlich eher tiefen Marktpreisen orientierten und nicht automatisch die vom Verkäufer vorgeschlagenen Preise übernahmen, wird das heute schnell als «drücken» und «ausnützen» gedeutet. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass dem potenziellen Käufer unter Umständen nicht mehr Geld zur Verfügung stand. Im Falle von Auktionen ist «Drücken» schwerlich möglich.

Das Zürcher Kunsthaus hingegen würde heute besser dastehen, wenn es Glaser den entgegenkommenden Preis bezahlt hätte. Denn wie schon die Bergier-Kommission 2001 darlegte, meinte das Zürcher Kunsthaus 1941 nach eigener Einschätzung für ein Munch-Gemälde «bloss» 12’000 Franken bezahlen zu können. Das entsprach zwar immerhin der Hälfte des verfügbaren Jahreskredits, doch Glaser, der von der Schweiz in die USA weiterreisen wollte, erwartete 15’000 Franken. Schliesslich ging Curt Glaser auf das Angebot ein und hatte dann wenigstens die 12’000 Franken zur Verfügung.*

Die Frage, ob ein für die Verfolgungssituation nicht verantwortlicher Käufer durch die Abnahme dem Verkäufer sogar einen indirekten Dienst erwies, entspricht wenig der heute dominierenden Grundeinstellung und wird sogar als skandalös empfunden.

Diese Betrachtung negiert, dass die Käufer von damals Menschen, die durch Dritte in eine Notlage gebracht worden waren, indirekt objektiv geholfen haben. Stattdessen werden sie zu rückgabepflichtigen Akteuren gemacht.

Übertriebene Auslegung

Man kann diese Problematik an einem weiteren, wenig bekannten Fall durchdenken. 1940 erwarb das Basler Kunstmuseum das bekannte Bild von Henri Rousseau «La muse inspirant le poète». Die Voreigentümerin war Gräfin Charlotte Wesdehlen geb. Oppenheim, früher mit dem Bankier und Kunstsammler Paul von Mendelssohn-Bartholdy verheiratet. Georg Schmidt, Direktor des Kunstmuseums von 1939 bis 1961, erklärte der sich in Genf aufhaltenden Emigrantin, das Bild könnte auf dem privaten Kunstmarkt eventuell einen Preis von 20’000 Franken erzielen. Als Museumsmann könne er aber allerhöchstens 15’000 Franken bieten, doch sei auch das nicht sicher.

Schmidt wusste, was belegt ist, dass die Frau «unbedingt» verkaufen musste. Nach der übertriebenen Auslegung wäre dies nun ebenfalls ein Ausnützen einer Notlage und müsste dieses Bild demnach ebenfalls restituiert werden.**

Es entbehrt jeder zeitgerechten Einordnung, wenn man meint, dass man schon damals «die Vernichtung in Tötungsfabriken» vor Augen gehabt haben müsse.

Wie ist nun der wieder aktuell gemachte Fall Glaser zu beurteilen? Es stehen zwei Einschätzungen von Zwang und Notlage einander gegenüber:

Die Kritiker des Ankaufs von 1933 gehen davon aus, dass der Eigentümer bereits verfolgt war. Im Moment der Auktion hatte der konvertierte Protestant wegen seiner jüdischen Herkunft die wichtige Stellung als Direktor der Staatlichen Kunstbibliothek Berlin sowie die dazugehörende Dienstwohnung tatsächlich bereits verloren.

Es entbehrt aber jeder zeitgerechten Einordnung, wenn in der BaZ die Meinung vertreten wird, dass man schon damals «die Vernichtung in Tötungsfabriken» vor Augen gehabt haben müsse. Andererseits sollte man nicht unterschätzen, dass die schon vor 1933 in Deutschland sich stark verbreitende Judenfeindlichkeit bei Glasers Verkaufsentscheid mit im Spiel gewesen sein könnte.

Kein Verkauf unter Druck

Die Verteidiger des Ankaufs betonen dagegen, dass Glaser den Entscheid für den Verkauf eines Teils der Sammlung bereits vor der Machtübernahme durch die Nazi, also vor Januar 1933 und mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht wegen der sich anbahnenden Judenverfolgung gefällt habe. Dass der Entscheid früh gefallen sein muss, dafür sprechen die praktischen Umstände, das heisst die für die Auktionsvorbereitung benötigte Vorlaufszeit (die Bestandesaufnahme der Sammlung und die Vorbereitung des in alle Welt verschickten Auktionskatalogs).

Auch die privaten Lebensumstände des Sammlers deuten darauf hin, dass der Verkauf nicht unter politischem Druck stattfand: Im Herbst 1932 starb seine Frau Elsa, mit der er die Sammlung aufgebaut hatte. Seither sei, gemäss eigenen Worten vom 19. Mai 1933, «die ganze Welt meiner Vergangenheit Stück um Stück zusammengebrochen». Glaser verband sich mit einer neuen Frau, Maria Milch, und wollte ein neues Leben anfangen.

Wie der Fall aus der Sicht der schweizerischen Rechtslage zu beurteilen ist, hat Peter Mosimann, der auf solche Fragen spezialisierte Anwalt und ehemalige Rechtsvertreter des Basler Kunstmuseums, im jüdischen Wochenblatt «tachles» jüngst eingehend und, ohne Widerspruch auszulösen, dargelegt.

Glaser war keiner juristisch relevanten Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit ausgesetzt.

Gemäss dem schweizerischen ZGB sind gutgläubige Käufe von abhanden gekommenen Werken nach fünf Jahren unanfechtbar. Der zur Diskussion stehende Kauf kann gemäss der damaligen Kenntnislage als gutgläubig eingestuft werden. In Basel wusste man zwar, dass die Bilder vom bekannten Sammler Glaser stammten (was in der Regierungsmitteilung vom 19.02.2008 allerdings verneint wurde).

Wie die sorgfältige Recherche des «Rundschau»-Redaktors Res Gehriger festgestellt hat, konnte man in Basel noch vor der Auktion wissen, dass Glaser beurlaubt worden war («Basler Nachrichten» vom 9. Mai 1933). Daraus eine «dreiste Ausnützung einer Notlage» (BaZ) zu konstruieren, ist aber selber eine dreiste Verdrehung der Verhältnisse.

Glaser war keiner juristisch relevanten Einschränkung seiner Handlungsfähigkeit ausgesetzt. Noch im gleichen Jahr konnte er nach der Schweiz ausreisen, und 1935 konnte er sogar, wohl von Ascona aus, nochmals nach Berlin zurückkehren und regulär zehn Container exportieren. Was 1933 in der Auktion wegging, ist als «Familiensammlung» (BaZ) kaum adäquat bezeichnet.

Heute besteht die Tendenz, vorschnell Kunstraub anzunehmen und Rückgabeforderungen zu erheben.

An der Rechtslage hat sich seit dem Basler Bescheid von 2008 nichts geändert. Es wäre erstaunlich, wenn eine Neubeurteilung zu einem anderen Schluss käme. Bis vor Kurzem sind wohl in Anerkennung der Rechtslage auch keine weiteren Begehren gestellt worden. Einzig die inzwischen erfolgten Rückerstattungen und die jüngst laut gewordenen Pressestimmen könnten dazu führen, dass aus Glasers entfernter Verwandtschaft ein Antrag auf Neubeurteilung des Falls kommen könnte.

Glaser hatte aus zweiter Ehe eine behinderte Tochter, die 1943 in der Schweiz starb. Es passt zur Kampagne der BaZ, dass diese mit zusätzlicher Dramatisierung meint, es hätte keine «geborenen Erben» gegeben, wenn er in Berlin geblieben wäre und sich von den Nazi hätte berauben und ermorden lassen.

Was sich inzwischen aber geändert hat, ist die generelle Einstellung gegenüber diesen Fragen. Nachdem Restitutionsansprüche lange Zeit zu wenig ernst genommen worden sind, besteht heute als Überkorrektur die Tendenz, vorschnell den Tatbestand des Kunstraubs anzunehmen und entsprechende Rückgabeforderungen zu erheben. Gewachsen ist aber auch die an sich begrüssenswerte Bereitschaft, jenseits der strikt rechtlichen Beurteilung eine empathische und moralische Einschätzung der Vorgänge vorzunehmen.

Keine Restitution, allenfalls Goodwill-Zahlung

Bereits aus diesem Grund werden solche Fragen nicht zur Ruhe kommen. Es wäre wünschenswert, wenn ein temporäres gesamtschweizerisches Restitutionsgesetz geschaffen würde, das einerseits die verbindliche Prüfung aller Forderungen zuliesse, andererseits mit einer Befristung der Überprüfungsforderungen (z.B. fünf Jahre) der leidigen Situation dann auch ein Ende setzte.

Wie weit hat ein Staat, in unserem Fall der Kanton Basel-Stadt, die Möglichkeit, wenn er mit einer Forderung auf Wiedergutmachung konfrontiert ist, jenseits der gesetzlichen Verpflichtungen zu handeln? Die Präsidialabteilung wird sich auf die geltende Rechtslage berufen müssen und wird korrekt erworbene Werke nicht aus dem Verwaltungsvermögen bzw. Universitätsgut herauslösen und restituieren können.

Etwas anderes wäre hingegen eine Goodwill-Zahlung zulasten des Finanzvermögens, wie sie 1997 mit 50’000 Franken geleistet wurde, weil der Kanton den jüdischen Flüchtling Eli Carmel, vormals Hans Weinstein, unter kritisierbaren Umständen abgeschoben hat.

Beim Ermessen einer solchen Zahlung kann nicht der heutige Wert massgebend  sein, der aus Sensationsbedürfnis gerne überschätzt wird. Zudem müsste berücksichtigt werden, ob und in welchem Mass von der Bundesrepublik in den 1960er-Jahren schon einmal Wiedergutmachungszahlungen geleistet worden sind.

Wenn auf damalige politische Verhältnisse abgestellt wird, dann sollte auch der damalige Betrag des Basler Ankaufs (3130 Franken) massgebend sein, was hochgerechnet heute etwa 25’000 Franken ergäbe. Eine solche Geste sollte dem Herstellen des Friedens dienen. Dabei dürfte der Leistungserbringer erwarten, dass auch die Anspruchsseite Sinn für Fairness entwickeln würde und zu würdigen wüsste, wenn in irgendeiner Form ein allfälliger Goodwill-Betrag trotz deutlicher Rechtslage angeboten wird.

* Esther Tisa Francini, Georg Kreis, Anja Heuss: «Fluchtgut – Raubgut. Der Transfer von Kulturgütern in und über die Schweiz 1933–1945 und die Frage der Restitution», Zürich Chronos 2001, 595 S. (Veröffentlichungen der UEK Bd. 1; zit.  S. 168ff)

** Georg Kreis: «Einstehen für ‹entartete Kunst›. Die Basler Ankäufe von 1939/40»,  Zürich NZZ Libro 2017, 232 S. (zit. S. 51f)

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