Zwar nannte er die Freiheit «den grossen Knast». Aber wenn einer in unserer Gesellschaft frei war, dann war es der kürzlich verstorbene Autor René Reinhard. Oder zumindest hinterliess er diesen nachhaltigen Eindruck auf mich.
«Hör doch auf. Wenn Du es gleich wieder einschränkst, ist es kein Angebot mehr.» Ich war perplex: René Reinhard, mittel- und wohnsitzlos, stand in der Küche meiner kleinen Wohnung in Pratteln und massregelte mich, weil ich grade angeboten hatte, dass er «ein paar Tage» bei mir leben könnte. Und er schaffte, was ich nicht für möglich gehalten hatte: Das warme Gefühl der Grossmut, in dem ich mich grade gesuhlt hatte, war mir peinlich. Ich verstand sofort, dass ich nicht ihm einen Gefallen, sondern mir den Beweis hatte erbringen wollen, was für ein offener Mensch ich doch war.
Jeden anderen hätte ich als unverschämt bezeichnet und rausgeworfen. Aber René war nicht unverschämt, sein Einwurf lief nicht darauf hinaus, dass er sich bei mir auf unbestimmte Zeit einnisten wollte. Er nahm sich lediglich immer die Freiheit, schonungslos auf unterschwellige Ängste, Zwänge oder Feigheiten seines Gegenübers hinzuweisen.
Das war in den frühen neunziger Jahren. Selbstredend nutzte René meine Gastfreundschaft genau ein paar Tage und zog dann – obwohl ich längst bekräftigte, er könne auch länger bleiben – ohne jeden Groll weiter. In der Zwischenzeit hatte er die Wohnung geputzt, einige Kleinigkeiten repariert und sonstwie versucht, sich nützlich zu machen. Am nützlichsten aber waren wohl die Diskussionen, in die er mich immer wieder verwickelte. Mir meine jugendlich-absoluten Standpunkte um die Ohren haute. Mich mit keiner Floskel und keiner Ausrede auf vermeintlich vernünftigen Standpunkten verharren liess.
Bereit, jeden vor den Kopf zu stossen
René Reinhard nahm sich die Freiheit, selbst jenen Menschen sehr unbequeme Fragen zu stellen und einen Spiegel vorzuhalten, die ihm nahestanden. Er war immer bereit, jeden vor den Kopf zu stossen, der etwas Unbedachtes von sich gab. Das faszinierte mich.
Ich stand ihm nicht besonders nahe; ich war ihm beim Rumhängen an der Bar des Kinos Sputnik am Liestaler Bahnhof begegnet. Die Zufallsbekanntschaft hatte meine jungjournalistische Neugier geweckt, im Zuge der sich häufenden Diskussionen mit dem älteren Mann hatte ich erfahren, dass er mit seinen in kleiner Auflage verkauften «Mappen-Geschichten» als Autor den Baselbieter Literaturpreis gewonnen hatte.
Ich schrieb ein Porträt, einen ähnlich persönlich gefärbten Text wie diesen hier. Als Einstieg wagte ich zu sagen, dass er mir bei der ersten Begegnung wegen seiner schlechten Zähne aufgefallen war. «Heute hat niemand mehr schlechte Zähne», schrieb ich und meinte: keiner, der in dieser reichen Gesellschaft seine Rolle spielt.
Die innere Gefangenschaft als Thema
René spielte diese Rolle nicht. Er war als Kind aus ihr hinausgeworfen worden, hatte in Heimen und Erziehungsanstalten Erfahrungen gemacht, die mir (und wohl vielen Lesern seiner Mappen-Geschichten) wie aus einer anderen Welt schienen. Aus der stammten sie ja auch, und René Reinhard, der erst 1971 den Weg aus der Drehtür von Heimen und Gefängnissen gefunden hatte, schien sich seither zu weigern, die Drehtür in die «geregelte Gesellschaft» zu benützen. Er geht nie den einfachen Weg und nutzt lieber jede Gelegenheit, um mit Schalk und Sarkasmus einen Standpunkt zu beweisen. Etwa in jener von seinem langjährigen Mentor Ueli Mäder in der BaZ geschilderten Anekdote (online nicht verfügbar), als er im Gefängnis freiwillig Holz spaltete, um aus den gefüllten Scheitersäcken eine Rampe zum Überklettern der Knastmauer zu bauen – nur um nach gelungenem «Ausbruch» zum Eingangstor zu marschieren und dort Einlass zu verlangen.
Auch seine Geschichten handelten immer von einer Form der Gefangenschaft. Die Freiheit nannte er den «grossen Knast»; er verwies auf Vorurteile, Regeln, Floskeln und Denkstrukturen, deren Gefangene wir sind, weil wir nicht wagen, alles auch einmal aus einer ganz andern Perspektive anzuschauen.
Ich begegnete ihm alle paar Jahre. Jedes mal dachte ich, dass es ihm nicht mehr so leicht fallen würde, mich zu verunsichern. Und jedes Mal gelang es ihm doch irgendwie; manchmal, indem er urplötzlich eine Position einnahm, die mir radikal konservativ erschien, bis er mir zeigte, dass sie das nur zu sein scheint, weil sie eben aus dieser Ecke kommt, aber eigentlich sehr vernünftig ist. Manchmal, indem er mich an meiner ganz persönlichen Biederkeit packte. Das war nicht immer angenehm, aber ausnahmslos überraschend und spannend.
Zu behaupten, René Reinhard sei vorurteilsfrei gewesen, ist wahrscheinlich falsch; aber zumindest hatte er keine Berührungsängste. Ich erlebte ihn aber vor allem immer als fair, aufrichtig und ungeheuer eindringlich – bisweilen konnte einem das auch auf die Nerven gehen. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, liess er sich nur von den eigenen Erfahrungen und niemals von Argumenten davon abbringen. Gegen Ende des Jahrtausends etwa, als er mit einem alten Laptop, den ihm mein Bruder geschenkt hatte, anfing, eine Datenbank des Firmengeflechts der Schweiz zu erfassen. All unsere Einwände, dass mit dem inzwischen online verfügbaren Handelsregister seine Fleissarbeit überflüssig sei, interessierten ihn nicht.
Fragesteller in der TagesWoche-Community
Als ich ihm irgendwann nach der Jahrtausendwende begegnete, war plötzlich sein Gebiss geflickt. Die Insignien des Randständigen waren weg. René lebte von der AHV, seine Gesundheit, erzählte er, sei «kaputt». Er wurde von einer neuen Einschränkung betroffen, gegen die er nichts ausrichten konnte. An der Ernsthaftigkeit und seinem eigenen Zwang, alles zu hinterfragen und jede Form der Heuchelei bloss zu stellen, hatte sich nichts geändert.
Nach sieben Jahren im Land der grossen Freiheit USA, deren Verlogenheit wir hier so gerne (und oft zu recht, aber ohne Selbstreflexion) an den Pranger stellen, begegnete mir René Reinhard zum letzten Mal – als häufiger Kommentator in der TagesWoche-Community (381 Beiträge schrieb er). Er hat hier seine Rolle als Fragesteller wahrgenommen. Ich fragte mich, ob ich die Diskussionen mit ihm auch öffentlich würde austragen wollen.
Wir haben uns noch einmal zu einem ausgiebigen Gespräch getroffen, wo er mir in seiner typisch markigen Art beschrieb, dass seine Lunge jeden Tag kollabieren «und ych jede Daag abgratze» könnte. Die Sauerstoffflasche auf seinem Rücken und der Umstand, dass er nicht mehr rauchte, untermauerten die dramatische Schilderung.
Bald danach verstummte René als Kommentator; dieser Tage ist er verstorben. Aber ich werde mich weiterhin in Situationen, die Kompromisse verlangen, bei der Frage ertappen, was René hierzu wohl sagen würde.
Quellen
Biografie René Reinhard