Der grosse Bruder besteht aus vielen kleinen

Eine Mehrheit der Schweizer ist überzeugt, bespitzelt zu werden. Im Datenschutz zeigt sich aber immer mehr, dass die Bedrohung nicht von Staaten allein stammt. Bloss nehmen das die Objekte der Datensammel-Begierde noch zu wenig zur Kenntnis.

Der oberste Schweizer Datenschützer Hanspeter Thür an seiner Jahrespressekonferenz mit Kameramann. (Bild: Peter Sennhauser)

Das Schweizer Datenschutzgesetz ist 20 Jahre alt – und hat bereits an Bisskraft eingebüsst. Während die Menschen sich weiterhin vor allem vor Videokameras und staatlichen Datensammlungen fürchten, richten sie selber in der Summe einen grösseren Schaden an, als sie sich vorstellen können.

Immerhin ein Viertel der Schweizer will, aufgeschreckt durch den Abhörskandal rund um die amerikanische NSA, seine Online-Aktivitäten anpassen. Das hat eine Umfrage im Auftrag des Internet-Dienstes Comparis ergeben. Eine Woche zuvor hat schon die TagesWoche in ihrer Umfrage zum Datenschutzverhalten der Leserschaft festgestellt, dass eine Sensibilisierung erkennbar wird.

Der Schweizer Datenschützer dürfte über die Hilfe von unerwarteter Seite erfreut sein. Auch wenn es wieder das Klischee des «Grossen Bruders» ist, das ihm Rückenwind beschert. Dabei hat sich das «Bedrohungsbild» rund um den Schutz der Grundrechte auf Freiheit, Privatsphäre und Integrität der Persönlichkeit seit Inkrafttreten des ersten Schweizer Datenschutzgesetzes vor genau 20 Jahren dramatisch verändert.

Links bis Rechts verteidigen Begehrlichkeiten

Unter dem Eindruck der Schweizer Fichenaffäre wurde das Gesetz eingeführt – und in den 20 Jahren von der Politik kaum an die sich rasch ändernden Gegebenheiten angepasst. Heute ist es nicht mehr nur der «Big Brother» in Form eines «Schnüffelstaates», auf den das Datenschutzgesetz im Papierzeitalter des Fichenskandals gemünzt wurde. Es sind vielmehr zahllose kleinere Brüder, die mit ihrem unstillbaren Datenhunger aus wirtschaftlichen Gründen täglich die Selbstbestimmung der Menschen gefährden. Mit der Digitalisierung sind weitere Herausforderungen an die Umsetzung des Rahmengesetzes Realität geworden: Aus grossen Datenmengen werden in Sekundenbruchteilen punktgenaue Aussagen über einzelne Menschen möglich; Verknüpfungen lassen Rückschlüsse zu, die sich kaum jemand vorstellen kann.

Trotzdem hat die Politik das klägliche Waffenarsenal der Datenschützer in 20 Jahren kaum aufgestockt – und der Wille dazu scheint auch heute nicht gross zu sein. Zu dem Eindruck konnte man jedenfalls kommen, als Hanspeter Thür seine jährliche Datenschützer-Pressekonferenz zum Anlass des Geburtstags des Gesetzes in Form eines Panels von Politikern durchführte: Von Links bis Rechts wurden einmal mehr die Begehrlichkeiten des Staats- und Polizeiapparats mit dem Schlagwort verteidigt, dass Datenschutz nicht zum Täterschutz werden dürfe.

Nur 2000 Einträge

In der Gegenrichtung – der Verteidigung der Persönlichkeitsrechte – hat sich in den letzten 20 Jahren wenig getan. Die kaum mit Kompetenzen ausgestatteten Datenschützer können in erster Linie Fingerzeige geben. Die Betroffenen von Persönlichkeitsverletzungen müssen – so sie denn überhaupt merken, dass sie zum Opfer geworden sind – einzeln vor Zivilgericht klagen und dem Täter ein Verschulden nachweisen. Kein Wunder, gibt es kaum eine Gerichtspraxis zum Datenschutz.

Die gesetzlichen Bestimmungen verlieren immer mehr Zähne. Zum einen, weil sie nicht durchsetzbar sind: Das Register der privaten Datensammlungen etwa, bei dem sich jeder anmelden muss, der besonders schützenswerte Daten sammelt, umfasst keine 2000 Einträge. Unglaubwürdig wenige in einem Staat mit 3000 Gemeinden, 100’000 Vereinen und 300’000 Unternehmen. Aber für die Unterlassung der Eintragung sind keine Sanktionen vorgesehen – und der Datenschützer hat noch nicht einmal die Möglichkeit, Bussen auszusprechen.

Ob jetzt mit der anstehenden Revision des Gesetzes Bewegung in den Schweizer Datenschutz kommt, bleibt abzuwarten. Werkzeuge wie eine grundsätzliche Privacy-by-default-Regelung (schriftliche Einwilligung für jegliche Datenbearbeitung nötig), das Recht auf Vergessen (Löschungsanträge) oder die systematische Korrektur falscher Daten stehen neben einigen anderen Themen auf dem Tapet.

Vielleicht heisst die Devise auch bald, dass die Daten, wenn der Kampf gegen die unbotmässige Sammlung schon nicht zu gewinnen ist, wenigstens korrekt sein müssen. Der Basler Datenschützer Beat Rudin sieht eine Tendenz in diese Richtung. «Es geht nicht einfach immer darum, dass weniger Daten besser sind.» Vielfach seien bessere Daten auch die bessere Lösung.

Machtloser Datenschutz

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