Am Birsköpfli lebt ein Mann, der sich um zwei Krähen kümmert. «Wäre das was für eine Story?», fragte ein Leser. Ja, das ist definitiv eine Geschichte – mit ungeahntem Ende.
Chris sitzt auf den Stufen zur «Veranda Pellicanò», einem kleinen Imbiss auf der Basler Seite des Birsköpfli. Neben ihm steht eine gelbe Tüte, auf seinem Schoss liegt ein Tuch voller Vogeldreck. Die Verursacher, zwei Krähen, sitzen seelenruhig auf seinen Schultern – eine links, eine rechts. Wegen ihnen ist er hier, die ganze Zeit. Unter dem Birskopfsteg, da wo die Birs in den Rhein mündet, steht sein Zelt.
Mit den starken Windböen seien die beiden Tiere vergangene Woche aus dem Nest gefallen. Das Weibchen habe er unter der Veranda des Restaurants entdeckt, wo es sich verkrochen habe, sagt Chris. «Wenn ich es nicht gefunden hätte, wäre es wohl gestorben.» Einen Tag später brachten ihm Passanten ein männliches Tier mit ähnlichem Schicksal vorbei. Es ist vermutlich der Bruder der «Maite», wie Chris das Krähen-Weibchen nennt.
Das Geschwisterpaar ist etwa anderthalb Monate alt. Normalerweise würden sie in dieser Phase von ihrer Familie beschützt. Doch bei den beiden Jungvögeln ist das Gegenteil der Fall: Sie werden von der eigenen Sippe angegriffen. «Auch jetzt fliegt ihr Clan ab und an noch Scheinangriffe gegen uns», sagt Chris.
Die letzten Tage haben ihre Spuren hinterlassen
Als er erzählt, pickt ihm das «Buebli» auf der rechten Schulter immer wieder ins Gesicht, an eine Stelle, die bereits rot und wund ist. «Die Wunde sieht halt anders aus. Wie etwas, was da nicht hingehört», sagt Chris und schiebt den Schnabel der Krähe immer wieder sanft zur Seite. Auch seine Hände sind übersät von roten Flecken und kleinen Schrammen. Die letzten Tage mit seinen Zöglingen haben ihre Spuren hinterlassen. Er winkt ab: «Das verheilt schnell.»
Seit sieben Tagen ist er schon am Birsköpfli. Von interessierten Beobachtern kriegt er Futter für die Tiere – Whiskas-Beutel, Nüsse und Früchte. Auch für ihn selbst ist ab und zu was dabei, warmes Wasser und Teebeutel gibt es oft. Jetzt steht gerade noch eine Tüte mit Pommes frites bei seinen Füssen. Einkaufen geht das Trio manchmal auch zusammen. Dann schaut er, «dass sie sich vorher ausgeschissen haben». Und für Notfälle hat er immer Taschentücher dabei.
Manchmal gibts auch einen Regenwurm. Das Katzenfutter aus der Nachbarschaft taugt aber auch. (Bild: Simone Janz)
Der knapp 50-Jährige kennt sich mit Vögeln aus. Er hat in der Vergangenheit bereits Amseln, Elstern und sogar Raubvögel wie Mäusebussarde und einen Rotmilan aufgepäppelt. Deshalb weiss er, was für die beiden Jungtiere am besten ist: in der Umgebung bleiben. Der Kontakt zu den älteren Krähen aus dem Clan dürfe nicht ganz abbrechen, die müssten sehen, dass die Jungen allen Umständen zum Trotz noch am Leben sind. Bis deren Federkleid voll ausgebildet ist, dauere es noch etwa zwei Wochen. Erst dann will Chris versuchen, die Krähen wieder auszuwildern. «Die Chancen, dass die beiden von ihrem Clan wieder aufgenommen werden, stehen etwa fifty fifty», sagt er.
Bis dahin sind die Vögel Tag und Nacht bei ihm – mit der Gefahr, dass sie sich zu sehr an ihn, an den Menschen gewöhnen. Chris hat sie mit einer Schnur an sich selbst befestigt und gibt ihnen mal mehr, mal weniger Spiel. «Zu ihrem eigenen Schutz», sagt er. «Ich bin deswegen aber auch schon als Tierquäler beschimpft worden.»
Manchmal lässt er sie auf die untersten Äste der Bäume fliegen oder geht mit ihnen zum Wasser, damit sie sich waschen können. Katzenfutter kriegen sie aus dem Beutel, Nüsse verteilt er auf dem Boden. Ab und zu gibt es auch mal einen Regenwurm. «Letztens kam ein Mädchen mit einem Behälter voller Würmer zu mir. Ich habe sie den beiden einen geben lassen, dann musste sie die Viecher aber wieder mitnehmen.» Chris will die «Maite» und den «Buebli» nicht verwöhnen, sondern aufs Leben vorbereiten.
Von ihm und den Krähen fehlt nun jede Spur
Seine Vögel sollen einen besseren Start ins Leben haben als er. Mit knapp 18 Jahren verliess er sein Zuhause, das eigentlich gar nie eines gewesen sei für ihn. «Ich hatte keinen sozialen Rückhalt und niemanden, der sich für mich eingesetzt hat», sagt er. Bereits als Kind habe er hart für seine Pflegeeltern arbeiten müssen. Mit 23 kam dann die Quittung: Bandscheibenvorfall. Seinen gelernten Beruf als Kellner konnte er nicht mehr ausüben. Elf Discushernien seien es mittlerweile geworden. Heute bezieht Chris eine hundertprozentige IV-Rente.
Die Krähen picken und kratzen ganz ordentlich. «Das verheilt schnell wieder», sagt Chris. (Bild: Simone Janz)
«Ich bin ein Misanthrop. Ich mag keine Menschen», sagt er über sich selbst, während er mit einem Sackmesser routiniert den neusten Vogelkot von seinem Shirt schabt. «Ich kann nur mir selbst vertrauen.» Trotz vieler positiver Rückmeldungen hat die Zeit am Birsköpfli nicht viel dazu beigetragen, dass sich seine Einstellung ändert: Als der FC Basel am Freitagabend seinen Meistertitel feierte, hätten ihm Fans in den frühen Morgenstunden in einem unachtsamen Moment seinen Rucksack mit all seinen elektronischen Geräten geklaut. Er erstattete Anzeige bei der Polizei.
Nun könne er nicht mehr mit seiner kleinen Tochter in Brasilien kommunizieren – wie jetzt, Chris hat Kinder in Brasilien? «Ja, und in Russland.» Er verwischt die Geschichte so schnell, wie er sie angerissen hat. Worauf er hinaus will: Er muss hin und wieder reisen und kann deshalb nicht an die Schweiz gebunden sein. Auch nicht durch seine Zöglinge. Wenn der Clan seine Jungtiere in zwei Wochen immer noch verstösst, will er sie richtig trainieren und dann jemanden suchen, der sich um sie kümmert. «Damit ich wieder reisen kann.» Bevor es so weit ist, stösst wohl bald noch ein dritter Findling zu den dreien. Es hat sich rumgesprochen, dass da einer ist, der sich auskennt. Und sich aufopfert.
Doch bevor es so weit kommen kann, ist Chris bereits wieder weg. Als wir mit ihm nochmals diesen Text anschauen wollen, ist das Zelt verschwunden. Von ihm und den Krähen fehlt jede Spur. Spaziergänger, die ihn kennen, wissen nicht, was passiert ist. Beim «Pellicanò» sagt man uns, die Polizei sei da gewesen und habe ihn weggewiesen.
Irgendwie fehlt er an diesem Ort. Auf der Wiese hüpfen zwei Krähen rum. Der «Buebli» und die «Maite»? Vielleicht.