Vor 20 Jahren begann der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Noch heute sind Tausende Balkan-Veteranen traumatisiert. In Bosniens Hauptstadt Sarajevo treffen nun ehemalige Feinde zusammen – um das Erlebte gemeinsam zu verarbeiten.
Das Schlimmste ist die Stille nach dem Schuss. Wenn man zurückfällt in den Schützengraben. Wenn man sich zwischen toten Kameraden in der Erde vergräbt und wie ein Donnergrollen das brutale Echo des Feindes erwartet. Und wenn dann nichts passiert. Minuten-, manchmal stundenlang. Eine Ewigkeit, in der das eigene Herz pocht und das Blut spürbar in den Adern pulsiert. In diesem Moment, sagt Zejko Vukelic (43), wisse man nicht, was schlimmer wäre: «Jemanden getötet zu haben oder – dass dieser Mensch noch am Leben ist.»
Zwanzig Jahre ist es her, seit er im Schützengraben lag. Damals, als Jugoslawien zerfiel und er als junger Soldat der serbischen Armee in Bosnien kämpfte. «Gespuckt und geschossen» hätte er damals auf den Feind, sagt Vukelic. Heute sitzen die Feinde von früher, ein Dutzend Männer aus Kroatien, Bosnien und dem Kosovo, direkt neben ihm.
«Erinnern, um zu vergessen»
Manchen fehlt ein Arm, anderen ein Fuss oder ein ganzes Bein. Sie nicken vorsichtig, während Vukelic von seinen Erfahrungen an der Front erzählt. Und manchmal, wenn er ins Stocken gerät oder seine Stimme zu versagen droht, legt einer von ihnen fast wie ein Freund die Hand auf seine Schulter.
«Erinnern, um zu vergessen», unter diesem Motto kommen dieser Tage Hunderte traumatisierter Veteranen der Jugoslawien-Kriege in Bosniens Hauptstadt Sarajevo zusammen. Um Erfahrungen auszutauschen und um das Erlebte gemeinsam zu verarbeiten. Und um den Frieden in einer Region zu stärken, in der fast zehn Jahre Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Volksgruppen vor allem Misstrauen und Hass hinterlassen haben.
Zwischen 1991 und 1999 kämpften auf dem Gebiet des auseinanderfallenden Jugoslawiens erst Serben gegen Kroaten, dann Kroaten gegen Bosniaken und schliesslich Bosniaken gegen Serben. Am Ende standen Serben im Kosovo Albanern und ethnischen Minderheiten gegenüber. Mehr als hunderttausend Tote, eine Million Vertriebene, der Völkermord von Srebrenica, das ist die grausame Bilanz dieses Krieges.
Als junger Rekrut war Zejko Vukelic ein Teil davon. Wie viele Männer er erschossen hat, weiss er nicht mehr. Vielleicht will er es nicht mehr wissen. Vielleicht ist es für seine Seele erträglicher so. «Die Erinnerung schwindet mit der Zeit», sagt Vukelic. Was bleibt, ist die Angst, die ihn bis heute nicht loslässt. Und die rasende Wut, die ihn noch immer verrückt macht. Die Wut auf sich selbst und die Wut auf die Militärregierung, die ihn als jungen Mann in diesen sinnlosen Krieg schickte.
Um mit all dem endlich abzuschliessen, ist er nach Sarajevo, jenen Ort, wo alles begann, zurückgekehrt. Weil sich der dortige Kriegsbeginn in diesem April zum zwanzigsten Mal jährt, hat das «Zentrum für gewaltfreies Handeln», eine bosnische Nichtregierungsorganisation, traumatisierte Veteranen aus sämtlichen Regionen des Balkans eingeladen, um auf Konferenzen und in Therapiegesprächen das Erlebte zu überwinden. Ein mehrstöckiges Plattenbaugebäude in Sarajevos Innenstadt, graue Wände, schmale Fenster, hier begegnen sich ehemalige Soldaten, die sich im Krieg bis aufs Blut bekämpften und deren grösster Gegner seither die eigene Psyche ist.
Genauso viel Leid
«Ein Grossteil der Männer ist vollkommen gefangen in der Identität als Opfer», sagt Vladan Beara, ein 43-jähriger Psychologe, der die Begegnungen als Therapeut und Seelsorger betreut. Viele Veteranen würden ihre Probleme erst dann überwinden können, wenn sie sähen, «dass die ehemaligen Feinde genauso viel Leid erfahren haben wie sie selbst».
Drei Stunden lang sitzen Beara und rund zwei Dutzend Veteranen an diesem Morgen beisammen. Einige sind noch am Abend zuvor aus Zagreb oder dem über 400 Kilometer entfernten Pristina angereist, um an dem Treffen teilzunehmen. Doch jetzt, da sie in einem kargen Seminarraum zusammensitzen, wo grelles Licht auf ihre Gesichter fällt und das laute Ticken der Wanduhr jede Sekunde des Schweigens zu takten scheint, fällt das Reden schwer.
Schliesslich ergreift Zejko Vukelic das Wort. «Es geht nicht um Schuld», sagt er. «Wir teilen alle das gleiche Schicksal.» Wenn der Serbe über den Krieg spricht, graben sich tiefe Furchen in seine Stirn. Er redet leise und konzentriert. Den Plastikstuhl, auf dem er sitzt, umklammert er fest mit beiden Händen. Findet er da nicht genug Halt, irrt sein Blick oft Hilfe suchend durch den Raum. «Oft schreie ich im Schlaf, ohne es selbst zu merken.» Die Erinnerung lasse ihn auch im Traum nicht los. Mal suche er Erlösung im Alkohol, mal Zuflucht bei Prostituierten. Seiner kranken Seele half es nicht.
Vukelic zückt ein vergilbtes Foto aus der Innentasche seiner Strickweste. Zu sehen ist darauf ein kräftiger, freundlich lächelnder Soldat in adretter Militäruniform. Vukelic ist stolz auf das Bild. 23 Jahre alt sei er damals gewesen. So sehe man aus, bevor man eingezogen wird. Danach, sagt er, «hört die Jugend schnell auf».
Eingefallene Wangen
Aus dem wuchtigen Rekruten von damals ist mittlerweile ein hagerer Mann mit schlohweissem Haar und eingefallenen Wangen geworden. Ob wenigstens seine Familie ihm Kraft geben könne, will einer der bosnischen Veteranen wissen. Er habe keine, sagt Vukelic. «Meine Frau hat mich verlassen. Sie hält mich für verrückt.»
Vukelic ist nur einer von rund 700 000 Kriegsheimkehrern, die heute in Serbien leben. Studien zufolge leidet mindestens ein Drittel von ihnen an sogenannten posttraumatischen Belastungsstörungen. Schlaflosigkeit, Apathie, wilde Aggressionen – die Symptome seien laut Beara, dem Psychologen, nicht zu übersehen.
Trotzdem blieben die traumatisierten Soldaten in der serbischen Öffentlichkeit ein Tabuthema. «Wenn man sich mit den Erfahrungen der Männer auseinandersetzen würde, müsste man auch über die Rolle des eigenen Landes im Krieg sprechen. Und die wird gerne verdrängt», sagt Beara.
Das mithilfe des deutschen Aussenministeriums gegründete Traumazentrum von Novi Sad ist die einzige Therapie-Einrichtung für Veteranen in Serbien. Hilfeleistungen und Unterstützung vom Staat gibt es für die Kriegsheimkehrer dagegen nicht. Schlimmer noch: Männern wie Vukelic schlägt in der eigenen Gesellschaft Hass und Verachtung entgegen.
«Die einen halten uns für Mörder oder Vergewaltiger. Und die anderen sehen in uns Vaterlandsverräter, die den Krieg und damit auch einen Teil des Territoriums verloren haben», sagt er.
Suizide, Amokläufe
Allein in Serbien nehmen sich noch heute jährlich mehr als 200 Kriegsheimkehrer das Leben. Auch in Bosnien oder Kroatien füllen regelmässig Bilder von Amokläufen die Blätter der Boulevardpresse. Immer wieder zünden sich dort ehemalige Soldaten auf öffentlichen Plätzen an oder sprengen sich vor laufenden Fernsehkameras in die Luft.
In Sarajevo kamen erst vor wenigen Wochen Hunderte pensionierter Soldaten der jugoslawischen Truppen zusammen, um vor dem Parlament für höhere Renten zu demonstrieren. Ihre Pension beträgt in der Regel nicht mehr als 150 Bosnische Mark, umgerechnet knapp 70 Euro. Eine Invalidenrente erhalten die meisten trotz diagnostizierter Traumata nicht.
In einem Gesetz, das in Bosnien die Anerkennung posttraumatischer Belastungsstörungen bei Veteranen regelt, wurde der 23.12.1997 als Stichtag festgesetzt. Erkrankungsfälle, die erst später festgestellt wurden, werden nicht mehr berücksichtigt. «Das ist natürlich fatal», sagt Beara, denn zum einen verstärkten sich bei vielen Männern die Symptome erst Jahre nach Kriegsende, und zum anderen hätten viele Veteranen aus Scham lange Zeit keine Psychologen aufgesucht, weil ihnen dies ihre Rolle als Mann in einer traditionellen Gesellschaft nicht erlaubte.
Auch der Kroate Dusan Novakovic (40) hat lange dafür gebraucht, sich seine Traumatisierung einzugestehen. Er hat sich schick gemacht für das Treffen der Veteranen. Er trägt Anzug und Krawatte, hat sein volles schwarzes Haar elegant nach hinten gekämmt und duftet nach Rasierwasser. Nur sein Blick ist getrübt, etwas Hartes hat darin Platz genommen.
Mit gerade einmal 19 Jahren musste Novakovic in seinem Heimatland an die Front. «Als Krüppel und gebrochener Mann», wie er sagt, wurde er zwei Jahre später aus dem Dienst entlassen. Ein Granatsplitter hatte sein linkes Bein zerfetzt. Heute trägt er eine Prothese, die sich unter der dunklen Anzughose nur erahnen lässt.
Von der Front zurück, war Novakovic nicht mehr er selbst. «Nur noch wütend» sei er gewesen. Zuhause habe er den Frust an seiner Familie ausgelassen, habe seine Frau verprügelt, so lange bis diese die beiden Kinder nahm und fortging. Es war besser so, sagt er. «Wer weiss schon, was noch passiert wäre.»
Mittlerweile glaubt Novakovic, seine Wut besser im Griff zu haben. Seit etwa einem Jahr nimmt er an einer Selbsthilfegruppe für Veteranen in Zagreb teil. Die Bilder, die sich wie ein Geschwür in seinem Kopf festgesetzt haben, wird er dennoch nicht los. Es helfe, darüber zu sprechen, sagen die anderen. Also spricht Novakovic. Er erzählt von Sarajevo, wo er sah, wie Männer auf Frauen und Kinder schossen. Und vom Kosovo, wo Soldaten mit zertrümmerten Schädeln Fussball spielten. «Im Krieg werden Menschen zu Bestien», sagt er.
Lebendiges Mahnmal
Ginge es nach dem Psychologen Beara, müssten die verschiedenen Staaten und Gesellschaften genau deshalb endlich ihren Veteranen zuhören. Jeder Einzelne von ihnen sei ein «lebendiges Mahnmal» dafür, dass es in der Region nie wieder zu Feindschaft kommen dürfe.
Zejko Vukelic, der Serbe, und Dusan Novakovic, der Kroate, werden bald gemeinsam nach Zagreb fahren, um dort auf einer weiteren Veteranen-Konferenz zu sprechen. Der Dialog mit der Gegenseite hilft ihnen, sagen sie. Vor allem aber wollen sie die Leute im eigenen Land wachrütteln und zum Verständnis für die Gegenseite ermutigen. Damit es nie wieder zum Krieg kommt, müssen die Leute aufgeklärt werden, sagt Vukelic. «Und wer sollte das machen, wenn nicht wir?»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.04.12