«Der Mut zur Selbstständigkeit muss noch wachsen»

Beim internationalen Tag der behinderten Menschen steht dieses Jahr die Selbstbestimmung im Zentrum. Doch was verstehen Fachleute und Betroffene darunter eigentlich?

«Behinderte sollen nicht mehr diejenigen sein, die immer Danke sagen müssen» (Bild: Urs Flüeler)

Beim internationalen Tag der behinderten Menschen steht dieses Jahr die Selbstbestimmung im Zentrum. Doch was verstehen Fachleute und Betroffene darunter eigentlich?

Der internationale Tag der behinderten Menschen am 3. Dezember hat dieses Jahr in der ganzen Schweiz das Motto: «Nur mit uns – Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung». In Basel findet in diesem Rahmen ein Aktionstag an der Schifflände statt, organisiert von Impulse Basel und dem Behindertenforum Basel. Glühwein und Linsensuppe werden verteilt, damit Passanten sich trotz Kälte Zeit nehmen, ein Statement zum Thema Selbstbestimmung abzugeben.

Das Thema soll so mit Lockerheit angegangen werden, das Wort Selbstbestimmung hat für manche Betroffene aber auch einen bitteren Nachgeschmack. Viele Menschen mit einer Behinderung kämpfen noch heute für mehr Mitsprache bei der Gestaltung des eigenen Lebens. Laut Georg Mattmüller vom Behindertenforum Basel findet momentan ein wichtiges Umdenken statt.

Der traditionelle Umgang mit behinderten Menschen sei, dass die Gesellschaft eine «öffentliche Versorgungspflicht» wahrnehme, Behinderte würden betreut und umsorgt. Doch reicht das aus? Mattmüller sagt, dass die Rechte der Behinderten auf gleichgestellte Lebensumstände noch zu wenig garantiert würden.

«Die Abläufe sind immer noch oft harzig, die gleichgestellte Teilnahme von behinderten Menschen am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben ist immer noch keine Selbstverständlichkeit.» Darüber schreibt auch der Rollstuhlfahrer Walter Beutler in einem Text, den die Tageswoche kürzlich veröffentlichte: «Warum ist es als Behinderter so schwer, selbstverständlicher Teil dieser Gesellschaft zu sein?»

«Normalität im Umgang mit Behinderten ist heilend.»

Martin Haug, Fachstelle Gleichstellung und Integration

Selbstbestimmung ist bei den aktuellen Bestrebungen der Behindertenpolitik ein wichtiges Schlagwort, vor allem vor dem Hintergrund des Assistenzbeitrags, der per 2012 eingeführt wurde. Ziel dieser IV-Leistung ist, dass Behinderte weniger bevormundet werden. Pflege- und Assistenzpersonal soll ihnen nicht mehr direkt zugewiesen werden, stattdessen erhalten sie einen monatlichen Betrag, und können sich ein Team zusammenstellen, dessen Lohn sie dann aus eigener Tasche bezahlen.

Mattmüller bezeichnet dies als grossen Fortschritt, auch symbolisch bringt der Assistenzbeitrag eine entscheidende Änderung mit sich: «Behinderte Menschen sind somit Arbeitgeber und nicht mehr diejenigen, die vom Staat versorgt werden und immer Danke sagen müssen.» Bei Bewerbungsgesprächen können sie Pflegefachleute auswählen, in deren Gesellschaft sie sich wohl fühlen.

Durch die Assistenzbeiträge ist es für Behinderte einfacher geworden, alleine zu wohnen. Dies sei ein wichtiges Ziel. Behinderte sollten wieder in eine «lebendige Quartiergemeinschaft» eingegliedert werden, wie Martin Haug, Leiter der Fachstelle Gleichstellung und Integration von Menschen mit einer Behinderung, sagt. Er ist der Meinung, dass alle «Sondereinrichtungen» nach Möglichkeit vermieden werden sollten: «Normalität im Umgang mit Behinderten ist heilend.»

Die Behinderten-Institutionen wollen nicht «abgebaut» werden

Allerdings sei der Paradigmen-Wechsel von der Betreuung von Behinderten (in Wohnheimen) hin zur Assistenz (bei ihnen zuhause) schwerfällig. Es gebe all die Institutionen und Wohnheime ja bereits, sagt Mattmüller, diese seien über die Jahre aufgebaut worden, und würden sich nun verständlicherweise nicht «abbauen» lassen wollen.

Selbstbestimmung heisse allerdings nicht, dass alle Behinderten alleine wohnen müssten. «Wahrscheinlich wollen dies manche gar nicht. Es gibt aber auch einige, die ein selbstständiges Leben führen könnten und wollen und noch immer in Wohnheimen leben.» Dies sei nicht ausschliesslich den Institutionen anzuhängen, auch bei den Betroffen müsse der Mut und die Kultur zur Selbstständigkeit noch wachsen. «Allerdings lässt sich sagen, dass das System nicht gerade ermutigend ist», fügt Mattmüller an.

Behinderte Menschen können viel mehr als Kerzenziehen

Ein anderer zentraler Punkt für die Selbstbestimmung von Behinderten ist die Beschäftigung. In geschützten Werkstätten können Behinderte heute ihre Zeit vertreiben. Dies empfinden viele aber nicht wirklich als befriedigend. So sagt etwa Josefina Vizcaino im Porträt bei «Impulse Basel», dass man sehr wenig verdiene und die Arbeit nicht wertgeschätzt werde: «Es ist eine Beschäftigung, keine Arbeit.»

Auch hier gilt, ähnlich wie bei den Wohnheimen, dass es für manche die richtige Beschäftigung sein mag, aber längst nicht für alle. Das Potenzial von Behinderten solle voll ausgeschöpft werden, nach dem Motto: Behinderte Menschen können viel mehr als Kerzenziehen.

Im Grunde gehe es bei der Selbstbestimmung darum, die «Perspektive der Betroffenen» einzunehmen und diese für sich selbst reden zu lassen, sagt Mattmüller. «Die Entwicklung geht heute in eine positive Richtung, die Ansprüche der behinderten Menschen werden verstanden und ernst genommen.»


Weitere Statements und Aspekte zum Thema Selbstbestimmung sind auf der Internetseite zum Aktionstag veröffentlicht. Am Dienstag bei der Schifflände können von 11-16 Uhr eigene Anregungen zum Thema eingebracht werden, im Gespräch bei einer warmen Suppe oder einem heissen Getränk.

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