Der Narzissmus breitet sich aus wie ein Virus

Selbstverliebtheit grassiert in den USA in ähnlichem Ausmass wie Fettleibigkeit. Psychologen sprechen von einer soziokulturellen Epidemie.

Prominente It-Girls wie Paris Hilton werden zu Rollenmodellen für Kinder: eine kleine Schön- heitskönigin in den USA. (Bild: Redux/Anzenberger)

Selbstverliebtheit grassiert in den USA in ähnlichem Ausmass wie Fettleibigkeit. Psychologen sprechen von einer soziokulturellen Epidemie. 

Als Keith Campbell von seiner dreijährigen Tochter erfuhr, dass sie jeden Morgen im Kindergarten als erstes ein Lied sängen mit dem Refrain «Ich bin etwas ganz Spezielles, ich bin aussergewöhnlich, schaut mich alle an», rief der Psychologieprofessor der Universität Georgia die Kindergärt­nerin an und schlug einen anderen Text vor: «Ich verspreche, auf meinen Dad zu hören und ihn nicht mehr ins Gesicht zu treten, wenn er mich anzuziehen versucht.» Die Kindergärtnerin erklärte erstaunt, das Lied stamme aus einem offiziellen föderalen Unterrichtsprogramm.

Symptome einer Seuche

In den USA sind die Notendurch­schnitte an den Highschools in den letzten 30 Jahren um 83 Prozent gestiegen – die schulische Leistung der Kinder im internationalen Vergleich aber gerade mal um ein Prozent. In Sportclubs gibt es bereits einen Pokal fürs Erscheinen in den Trainings, und am College fordern Studenten (immer häu­figer schon die Eltern oder deren Anwälte) von Professoren ganz selbstverständlich eine «zweite Chance», wenn sie die Semesterprüfungen nicht bestanden haben.

Das sind nur einige von unzähligen Symptomen, die Keith Campbell und Jean Twenge, Psychologieprofessorin der San Diego State University, als Zeichen einer «narzisstischen Epidemie» aufführen. Anhand zahlloser Studien und Studentenbefragungen, Labortests und Expe­rimente aus den ganzen USA und einem Zeitraum von 30 und mehr Jahren haben Twenge und Campbell die Fieberkurve analysiert, welche den Zustand für die US-Gesellschaft ermittelt. «The Narcissim Epidemic» heisst das Buch ­folgerichtig, in dem sie 2009 ihren furchteinflössenden Befund veröffentlicht haben.

Die Zahl der Menschen mit krankhaft aufgeblähtem Ego hat in den USA längst die statistische Verbreitung der Fettleibigkeit erreicht – gegen die indes staatliche Massnahmen lanciert worden sind. Und obwohl inzwischen bereits bei knapp zehn Prozent der Twens klinisch nachweisbare narziss­tische Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden können, dürfte die Politik genauso wenig gegen die weitere Ausbreitung des Narzissmus unternehmen wie die Gesellschaft.

Denn eine Eigenschaft des masslos übersteigerten Selbstvertrauens, das mit un­realistischen Ansprüchen, der Unfähigkeit zu sozialen Bindungen und verantwortungslosem Risikoverhalten einhergeht, liegt darin, dass Narzissten auf den ersten Blick anziehend, interessant und bewunderungswürdig erscheinen – und ihr Zustand demnach auf die übrigen Menschen zunächst erstrebenswert wirkt. Das macht aus der seit den 1970er-Jahren grassierenden psychokulturellen Tendenz eine regelrechte Epidemie, in deren Verlauf immer mehr Menschen angesteckt werden.

Eine Überdosis Selbstvertrauen

Neben der auf Individualismus und «Selbstvertrauen» setzenden Erziehung seit den 1970er-Jahren haben die Medien den Trend dankbar aufgegriffen und verbreiten das Virus mit ­einer Lawine an Casting- und Reality-Shows, in denen sich kleine Narzissten produzieren können. Und im World Wide Web kann jedermann ­selber dafür sorgen, die gebührende Aufmerksamkeit zu erhalten – mit ­idiotischen Stunts auf Youtube oder ­einem Strip auf der Myspace- oder ­Facebook-Seite.

Der Celebrity-Kult hat längst jene Grenze überschritten, an der eine sportliche oder kulturelle Leistung die Voraussetzung für eine öffentliche ­Zurschaustellung war. Und wer es noch nicht geschafft hat, mietet sich für ein paar Tausend Dollar drei falsche Paparazzi und eine Hand voll falscher Kreisch-Fans bei «Celeb 4 A Day», um im abendlichen Ausgang Aufsehen zu erregen.
Die Finanzwirtschaft schliesslich heizt den Kreislauf an, indem sie mit anfänglich günstigen und dann ruinös teuren Krediten jedermann die absurdesten Statussymbole, vom Schmuck über Autos bis zum überdimensionierten Haus, ermöglicht – jedenfalls bis Anfang 2008.

Diese vier Bereiche sind laut Twenge und Campbell die Treiber der Nar­zissmus-Epidemie, und angesichts der vermeintlichen «Erfolge» ihrer Pro­tagonisten eifern ihnen immer mehr Amerikaner nach. Dabei, schreibt Twenge, «sind Narzissten wie Flugzeugabstürze: spektakulär, aufsehen­erregend und meistens ein Desaster». Was ist also einer Gesellschaft passiert, in der sich partysüchtige Milliardärs­erbinnen wie Paris Hilton (nach einem Verkehrsdelikt vor dem Richter) unwidersprochen als «Rollenmodell für die Jugend» bezeichnen können?

Kammerzofe der Tochter

«Zwar spielt die Erziehung durchaus eine massgebliche Rolle», bekräftigt Twenge auf Nachfrage. Aber in den Vereinigten Staaten habe sich die Kultur insgesamt ­so weit verändert, dass Massnahmen in einem Bereich keine nachhaltige Verbesserung mehr bringen würden. «Sie können heute durchaus ein Kind mit anderen Werten zu ­erziehen versuchen und laufen dennoch Gefahr, dass es ganz einfach durch die übrigen Einflüsse narzisstische Tendenzen entwickelt.»

Dass viele Eltern aber nicht ­einmal versuchen, sich dem Trend zu entziehen, habe mit einem Rollentausch zu tun. Sie buhlen um die Zuneigung der Kinder statt umgekehrt. «Es ist einfacher, zum Freund des eigenen Kindes zu werden, wenn man es gewähren lässt.» Grenzen zu setzen und echte Gefühle zu lehren, sei anstrengender. Jedenfalls so lange, bis die Eltern erkennen, dass sie keineswegs die Freundin oder gar die Queen Mom, sondern vielmehr die Kammerzofe der «Prinzessin» geworden sind, die sie herangezüchtet haben.

Gesundes Mass an Narzissmus?

Zudem gibt es reihenweise Entschul­digungen und Ausreden zum Phänomen, das gemeinhin mit dem Schlagwort des «gesunden Selbstvertrauens» und als Ingredienz für ein erfolgreiches Leben verharmlost wird. Twenge erhebt sofort Einspruch: «Selbstvertrauen ist die Folge von Erfolg, nicht die Voraussetzung dafür.» Die Vorschusslorbeeren werden seit den 1970er-Jahren verteilt – «getreu dem Motto: Was gut für einen ist, von dem ist noch mehr sicher noch besser».

Das allerdings ist ein fataler Trugschluss. Das Gegenteil ist der Fall: Menschen mit einem aufgeblähten Ego sind langfristig nachweislich weniger erfolgreich als die andern, weil sie überheblich, aggressiv und beziehungs­unfähig werden. Sobald Substanzielles gefordert wird wie Leistung, Zuneigung oder Teilnahme, fällt das Kartenhaus der Narzissten in sich zusammen.
Darauf reagieren sie nicht selten mit Frustration und Aggression. Wenn ihnen die vermeintlich gebührende Aufmerksamkeit nicht geschenkt wird, ­holen sie sie sich mit rücksichtslosen Akten, sei es als Schulhofprügler mit zugehörigem Youtube-Video oder gar als Amokläufer. Hinter solchen entsetzlichen Taten einen Mangel an Selbstvertrauen zu sehen, halten die Autoren des Buchs für eine krasse Fehleinschätzung, die dazu führen kann, dass in ähnlichen Fällen Feuer mit Öl bekämpft werde.

Wie weit die Epidemie in der puritanisch geprägten US-­Kultur fortgeschritten ist, zeigen die Trends der Kirchen. Sie fangen an, ein Recht auf Reich­tum und Erfolg zu ­predigen: «Prosperity Christianity» – Erfolgschristentum. Joel Osteen, der erfolgreichste Pastor der USA, ver­kündet in seiner palast­artigen Kirche in Houston, Texas, Gott habe niemanden erschaffen, um durchschnittlich zu sein. Seine Kirche hat den grössten ­Zuwachs im ganzen Land.

Keine Impfung in Sicht

Es gäbe ein paar Gegentrends zur ­Narzissmus-Epidemie, aber keine Impfung, sagt Twenge. «Harry Potter mit seinen Werten von Freundschaft, Bescheidenheit und Treue ist die Aus­nahme, welche die Regel bestätigt, und es ist kein Zufall, dass die Figur nicht in den USA entstanden ist.»

Die einzige Zäsur in der Ausbreitung des Phänomens kam mit der Immo­bilienkrise 2008, die das materielle Wettrüsten fürs Erste beendet hat. Ob aus der Epidemie eine weltweite Pandemie wird, ist laut Jean Twenge noch nicht klar. Europa tendiere dazu, amerikanische Kulturtrends zu übernehmen, fürchtet sie. Zur Hoffnung Anlass gäbe dafür der fernöstliche Raum, weil dort Bescheidenheit und Gemeinsamkeit traditionell stark verwurzelt seien. Und weil es in Mandarin und Taiwanesisch nicht einmal ein Wort für Selbstvertrauen gibt.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25/11/11

Korrektur, Donnerstag 24. 11. 2011: Dr. Jean Twenge ist Professorin an der State University, nicht der UC San Diego.

Nächster Artikel