Die Sportwissenschaft ist endgültig an den Schweizer Universitäten angekommen. Lange Zeit hatte sie es schwer – im Land der Turner und Turnlehrer.
Wer Sport studiert, wird Sportlehrer. Bis vor gut zehn Jahren wäre diese Einschätzung nicht verfehlt gewesen. Seither aber hat sich in der Schweizer Hochschullandschaft einiges getan. Einer von zwei Absolventen zeigt nicht länger der Schulklasse den Felgaufzug, sondern sucht sich seinen Beruf anderswo: in der Gesundheitsbranche oder im Leistungssport, im Journalismus oder im Management, in Sportorganisationen – oder in der Wissenschaft. Wichtige Impulse für diese Entwicklung gehen mitunter von den Sportinstituten an den Schweizer Universitäten aus.
Das ist keine Selbstverständlichkeit. Bemühungen, die über das Theoretisieren der Turnausbildung – wozu durchaus Vorlesungen in Anatomie oder Physiologie gehörten – hinausgingen, waren an den Universitäten seit jeher eine Seltenheit. Denn sie entsprachen nicht der gelebten Tradition: 1922 gliederte sich in Basel der erste Turnlehrerkurs an die Universität an (siehe Beitrag nächste Seite). 1936 zog die ETH Zürich nach, noch später die Universitäten Lausanne, Genf und Freiburg, 1968 schliesslich auch Bern. Es waren, von einigen Ausnahmen abgesehen, Männer und Frauen der Tat, die an den Universitäten das Fach Sport lehrten. Ein Land der Turner wurde zum Land der Turnlehrer.
Erziehung der Massen
Diese Kultur des Praktischen hat das Gefüge über Jahrzehnte geprägt: «Man kann von einer gewissen Theoriefeindlichkeit sprechen, fast von einer Angst, sich wissenschaftlich mit dem Sport zu befassen», sagt Lutz Eichenberger aus Basel, einer der wenigen Sporthistoriker der Schweiz. Und es gab weitere, politische Gründe für die mühselige Etablierung der Sportwissenschaft an den Universitäten – das wird im europäischen Vergleich augenscheinlich.
Im zentralistischen Frankreich geriet der Sport schon vor 1900 wie nebenbei ins Blickfeld der Wissenschaft. Deren vorderstes Ziel war die Effizienzsteigerung der Industriearbeiter. Der Zusammenhang zwischen Training und Ermüdung wurde erforscht, intensiv wurden physiologische Untersuchungen angestellt. Etienne-Jules Mareys berühmte Fotoserien erlaubten das Studium von Menschen in Bewegung – auch Sportler lichtete der Franzose ab, zum Beispiel Fechter oder Stabhochspringer.
Im nationalsozialistischen Deutschland und faschistischen Italien wurde die Strahlkraft erfolgreicher Sportler bald erkannt und diese wurden in ihrem Leistungsstreben entsprechend unterstützt. In der Schweiz wollte man von einer Forschung, die sich in den Dienst des Spitzensports stellte, nicht viel wissen. Der Sport war ein Mittel zur staatlichen Körpererziehung, mehr nicht. «Nicht einseitige Förderung von Höchstleistungen steht im Vordergrund (…), sondern die Erziehung der Masse zu körperlich und geistig gesunden, arbeitsfreudigen und charakterfesten Menschen», hielt Bundesrat Rudolf Minger 1932 fest.
Staatliches Doping kein Thema
Nach dem Zweiten Weltkrieg sprossen die Sportinstitute im geteilten Deutschland wie Pilze aus dem Boden: «Die DDR definierte sich als Staat, der durch sportliche Erfolge auf sich aufmerksam macht. Und die BRD wollte dagegenhalten», sagt Uwe Pühse, Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaften an der Universität Basel. Als Folge zählte allein die BRD bald etwa achtzig gut ausgestattete Sportinstitute.
Die Eidgenossenschaft, die auch während des Kalten Kriegs davor zurückscheute, einzelne Athleten als nationale Aushängeschilder aufzubauen, hatte gerade mal deren fünf. Staatlich organisiertes Doping war in der Folge hierzulande kein Thema. Gefördert wurde der Spitzensport höchstens über privatrechtliche Organisationen oder eine solide Trainerausbildung an der 1944 gegründeten Eidgenössischen Sportschule in Magglingen, und nicht über eine auf Touren gebrachte universitäre Sportwissenschaft.
Kein Gerät für staatliches Doping
Doping-Skandale wie die Telekom-Affäre an der Universität Freiburg i. Br. in den Neunzigerjahren seien in der Schweiz schon deshalb nicht denkbar gewesen, «weil die dafür notwendigen Gerätschaften und Betreuungskapazitäten in den universitären Sportinstituten gar nicht vorhanden gewesen waren», sagt Uwe Pühse. Man musste mit wenig Geld und wenig Professuren auskommen. Auch die Zusammenarbeit mit der Medizin wurde noch nicht gehegt und gepflegt.
Ob die Gefahr von Doping mit der wachsenden Bedeutung der Sportinstitute in der Schweiz zunimmt, ist nicht zu beurteilen. Der Bund war in seiner Haltung gegen illegale Leistungssteigerung schon immer äusserst strikt. Festzuhalten ist aber auch, dass er seine Bedachtsamkeit in Sachen Förderung einzelner Athleten inzwischen etwas abgelegt hat: Seit Kurzem sind 17 Athleten als Zeitsoldaten angestellt, etwa Langlauf-Olympiasieger Dario Cologna. Ausserdem löste der Bund just vor einer Woche, am 20. Januar 2012, die 1874 gegründete Eidgenössische Sportkommission auf, ein Beratungs- und Kontrollorgan für Fragen des Sports.
Forschungsverbot in Basel
Neue Gesetzesbeschlüsse in den Siebzigerjahren gaben der Sportwissenschaft zumindest formal mehr Gewicht. «Dazu kam es», erinnert sich Lutz Eichenberger, der selber am Basler Institut arbeitete, «Ende der Achtzigerjahre an verschiedenen Instituten zu einem Generationenwechsel. Akademischer gesinnte Persönlichkeiten kamen zum Zug.» Zum Durchbruch der Sportwissenschaft reichte das hingegen noch nicht. Die Universitäten bildeten im Auftrag des Bundes Sportlehrer aus, durften aber die Gestaltung der Lehrgänge kaum eigenständig vorantreiben. Der Universität Basel war es bis 1990 verboten, überhaupt Forschung zu betreiben.
«Erst mit dem Wechsel zum Bologna-System im Jahr 2002 setzte sich die Akademisierung der Sportwissenschaft wirklich durch», erklärt Uwe Pühse. Eine Erkenntnis, die auch für den Rest der Schweiz gültig ist. Das Lehrangebot differenzierte sich: Die Ausrichtungen der verschiedenen Institute sind tendenziell naturwissenschaftlich (Zürich, Freiburg), medizinisch (Basel, Genf) oder sozialwissenschaftlich (Bern, Lausanne). Eine weitere Spezialisierung erlauben die Masterausbildungen. Erst seit wenigen Jahren ist es zudem möglich, an Schweizer Sportinstituten den Doktortitel zu erlangen.
Mehr Wissenschaft, mehr Studenten
Gleichzeitig mit diesem Wandel – dem Aufstieg der Sportwissenschaft zur akademischen Disziplin – schoss die Zahl der Studierenden in die Höhe. Neben Basel führte letzten Herbst deshalb auch die Universität Bern die Eignungsprüfung ein, Freiburg wird dieses Jahr erstmals auf den Numerus clausus zurückgreifen. Das Fach erfreut sich nicht nur bei den Studierenden anhaltender Popularität.
Auch in den Fakultäten sind die Sportinstitute im Aufwind. Zu wenig Wissenschaft, zu viel Sport: Wo früher dieser unausgesprochene Vorwurf durch die Hörsäle und Seminarräume der alten Disziplinen geisterte, gehen heute Türen auf. Die Zusammenarbeit wird gesucht.
Was jedoch marginalisiert wird, ist die historische und kulturelle Auseinandersetzung mit dem Schweizer Sports. Diese wird zurzeit weder an den Sportinstituten noch in den angestammten Fächern wirklich angeregt. Aber was nicht ist, das kann noch werden. Das hat die Entwicklung der Sportwissenschaft in der Schweiz gezeigt.
Eine Liste der Schweizer Sportinstitute finden Sie hier.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12