Der Weg zu einer besseren Kommentarkultur führt nicht über einen Klarnamenzwang

Ist die Entscheidung zwischen Klarnamen oder Pseudonymen wirklich eine Entscheidung zwischen gut und böse? Hasskommentare sind im Internet ein Problem, aber es ist fraglich, ob sie durch eine Klarnamenpflicht verschwinden.

(Bild: Anthony Bertschi)

Ist die Entscheidung zwischen Klarnamen oder Pseudonymen wirklich eine Entscheidung zwischen gut und böse? Hasskommentare sind im Internet ein Problem, aber es ist fraglich, ob sie durch eine Klarnamenpflicht verschwinden.

In den vergangenen Wochen gab es auf verschiedenen Plattformen – auch in den Kommentaren bei uns auf der Seite und auf unserer Facebook-Seite – immer wieder Diskussionen über die Frage, ob Pseudonyme im Internet legitim sind oder ob nur Klarnamen erlaubt sein sollten.

Die TagesWoche unterstützt sowohl die Anmeldung mit Klarnamen als auch die mit Pseudonym. In unserem Community-Leitfaden heisst es: «Wir schätzen Klarnamen, erlauben aber auch Pseudonyme. Pro Person ist aber nur ein Profil erlaubt.»

Sind anonyme Kommentare wirklich das Übel?

Zwei Beispiele aus unserer Facebookdebatte um die von Baschi Dürr angeordneten Kommentarlöschungen:

«Liebe Tageswoche, da wäre wohl ein erster Schritt, dass ihr endlich anonyme resp. unter einem Pseudonym geschriebene Kommentare nicht mehr veröffentlichen würdet. Wer seine Meinung sagen will, soll auch dazu stehen und sich nicht hinter einem Pseudonym verstecken können. Früher wurden solche Beiträge in jeder anständigen Zeitung sofort ungelesen in den Abfall befördert.» (Jürg Allemann)

«Ich zB bin nicht unter meinem richtigen Namen angemeldet, muss ich auch nicht, da mich nicht jeder finden muss. Jedoch ist ganz klar, Kritik darf und muss erlaubt sein, Beleidigungen sind eine Sauerei und gehören gelöscht. (Das man nicht immer sofort alles löschen kann ist jedoch auch klar!)» (Ezio Auditore)

Der Tagesanzeiger hat in einem Radiointerview angekündigt, im Herbst auf eine ausschliessliche Anmeldung mit Klarnamen umzustellen. Damit erhofft sich die Redaktion eine Verbesserung des Diskussionsniveaus, ausgehend von der Theorie, dass Leute unter ihrem tatsächlichen Namen weniger beleidigende Kommentare schreiben als unter Pseudonym.

Gar keine Anonymität mehr im Internet?

Diesen Standpunkt vertritt auch Randy Zuckerberg, ehemalige PR-Chefin von Facebook. In Österreich fordert eine Initiative «Die Meinungsmutigen», lanciert von einem PR-Berater und unterstützt von einigen Chefredaktoren, gar eine völlige Abschaffung von Pseudonymen im Internet. 

Oft werden Pseudonyme als Grund genannt, dass Hasskommentare überhaupt vorkommen. Es gibt allerdings Argumente, die gegen eine Klarnamenpflicht sprechen und die Wirksamkeit als solche in Frage stellen.

Pseudonyme im Internet erleichtern hasserfüllte Diskussionen, sie sind dabei aber nur ein Aspekt des grösseren Problems der Anonymität. Durch die Abschaffung von Decknamen operiert man eher am Symptom als an der Ursache.

Ingrid Brodnig, Leiterin des Ressorts «Medien» beim Wiener «Falter» hat in ihrem Buch «Der unsichtbare Mensch» Aspekte aufgeführt, die das «Trollen» im Internet erleichtern. Dazu gehört unter anderem, dass man die Reaktion des Gegenübers nicht sieht, und selbst die schriftliche Antwort nur zeitverzögert erhält.

Ein Nutzer sagte zu Brodnig: «Das bin ja nicht wirklich ich.»

Viele Menschen betrachten ihre Internet-Persönlichkeit als losgelöst von ihrem «wahren Ich», und weisen daher die Verantwortung für ihr Verhalten im Netz von sich. Mit dieser zweiten, vom eigenen Wunschdenken geprägten Persönlichkeit verbindet sich oft ein Machtgefühl gegenüber anderen.

Unterstützt wird dies durch fehlende Autorität – es gibt keine Polizei im Internet, die soziale Kontrolle ist nicht vorhanden. Das Schlimmste, was einem Troll passieren kann, ist der Ausschluss von der Kommentarmöglichkeit.

Diese Dynamik führt zu einer deutlich niedrigeren Hemmschwelle im Internet als in anderen sozialen Situationen. Das Problem ist, dass sie mit einer Klarnamenpflicht immer noch zum Tragen kommt.

Zum Vorschlag einer Klarnamenpflicht gab es auch auf Facebook mehrere Diskussionsthreads, die genau vor Augen führen, wie effektiv das Prinzip wäre: Die Nutzer kommentieren mit ihrem vollen Namen und sparen nicht an Polemiken.

Die Klarnamenpflicht scheitert schon an der technischen Machbarkeit

Eine wichtige Frage, die bisher nicht beantwortet wurde durch die Verfechter der Klarnamenpflicht, ist die nach der technischen Umsetzung:

Wie sollen Klarnamen verifiziert werden? Jedes einzelne Profil müsste von einer Person geprüft werden. Könnte den Nutzern Sicherheit garantiert werden, wenn alle einen Scan ihrer Identitätskarte einschicken müssten? Und wie würde man überhaupt sicherstellen, dass auch wirklich der Besitzer der Identitätskarte der Einsender ist?

Es gibt bereits Algorithmen, die unerlaubte Pseudonyme herausfiltern sollen, die aber offenbar häufig scheitern. So stufen sie reale Namen fälschlicherweise als Pseudonym ein und offensichtliche Pseudonyme wie «Napoleon Bonaparte» werden von ihnen ignoriert.

Vielleicht wäre der ganze Aufwand gar nicht nötig – wenn man andere Massnahmen ergreifen würde.

Es gibt bereits Communities, die sehr viel Kommentare bekommen und lange Diskussionsthreads haben, aber sehr zivil im Ton sind. Dazu gehören zum Beispiel das Blognetzwerk Gawker, die New York Times oder das Wissensportal Quora. Drei Punkte fallen dabei besonders auf:

    1. Die Leser und Leserinnen werden von der Redaktion ernst genommen, als Diskussionspartner und als Inputgeber. 
    2. Die Leser und Leserinnen werden eingebunden, sei es durch die Möglichkeit, sich selbst an der Kommentarmoderation zu beteiligen oder durch Vorschläge für Themen. 
    3. Den Lesern werden gezielte Fragen gestellt, die sie unmittelbar in die Diskussion einbinden.

Die Plattformen, die eine Klarnamenpflicht eingeführt haben, argumentieren mit einer wesentlich besseren Kommentarkultur. Allerdings geht aus ihren Analysen hervor, dass sie sich eben nicht auf das alleinige Abschaffen von Pseudonymen verlassen. Das deutsche Nachrichtenportal Focus hat 2012 Pseudonyme abgeschafft. Der Chefredakteur Florian Festl in einem Statement

«FOCUS Online macht seit einiger Zeit sehr gute Erfahrungen mit einer Klarnamenpflicht für User, die unsere Artikel und Videos kommentieren. Wir legen Wert darauf, dass FOCUS-Online-Nutzer mit ihrem Namen zu ihrer Meinung stehen. Umgestellt auf Klarnamen haben wir unsere Community deshalb im Dezember 2012. Die User nehmen zunehmend am Redaktionsgeschehen von FOCUS Online teil. Wir nehmen ihre Kommentare häufig zum Anlass für neue Recherchen, treten mit ihnen Kontakt und zitieren sie. Schon deshalb legen wir Wert darauf, es nicht mit ‹cindy77› zu tun zu haben.»

In dem Zitat klingen die oben genannten Punkte an. Es sollte im Vordergrund stehen, dass die Nutzer besser eingebunden werden und ernst genommen werden, über das blosse Kommentieren unter Nachrichtenartikeln hinaus. In einer Demokratie sollte den Bürgern das Recht zugestanden werden, nicht überall hin verfolgbar zu sein.

Beteiligung der Autoren an der Diskussion

Auch schon die Beteiligung der Autoren der betreffenden Artikel an der Diskussion kann das Niveau massgeblich beeinflussen: Die Leser erkennen den Mehrwert der Debatte, und die tatsächlichen Trolle haben es schwerer, einen Kommentarthread zu stören, der sich an konkreten Argumenten orientiert. 

Es gibt Mittel, Debatten im Internet positiv zu beeinflussen, ohne die Nutzer zu einer Nennung ihres tatsächlichen Namens zu zwingen: Wir müssen sie nur einsetzen.


Ingrid Brodnig: «Der unsichtbare Mensch. Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert.» Czernin Verlag.

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