«Die Adventszeit ist auch ein bisschen nervig»

Der Mensch jagt vor Weihnachten durch die Läden den Schnäppchen nach, schlägt sich den Bauch voll und jettet in der Welt herum. Nur die Armen und Arbeitslosen, die sollen bitte schön bescheiden leben. Trotzdem hat Pfarrer Rolf Stöcklin Hoffnung, wie er im Interview sagt.

Jeder Mensch hat ein Raubtier in sich, sagt Rolf Stöcklin. Seines haben wir aber nicht gesehen. 

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Der Mensch jagt vor Weihnachten durch die Läden den Schnäppchen nach, schlägt sich den Bauch voll und jettet in der Welt herum. Nur die Armen und Arbeitslosen, die sollen bitte schön bescheiden leben. Trotzdem hat Pfarrer Rolf Stöcklin Hoffnung, wie er im Interview sagt.

Herr Stöcklin, an Weihnachten 2014 predigten Sie: «Wie sehr wir Menschen immer noch im Jagen verhaftet sind, zeigt sich in der Shopping-Schlacht vor dem Weihnachtsfest.» Bringt Weihnachten das Raubtier im Menschen heraus?

Das ist ja immer da, das Raubtier im Menschen. Wir sind ein Teil der Natur, der ums Überleben und um den letzten Bissen Brot kämpft. An Weihnachten bricht das halt durch, wenn die Unternehmen den Konsum anheizen. Der deutsche Dichter Heinrich Heine sagte einmal, wenn der Mensch den Glauben zur Seite schiebe, werde er noch hemmungsloser.

Zur Person
Rolf Stöcklin ist katholischer Pfarrer. Zusammen mit Marcus Scheiermann leitet er die Pfarrei St. Clara im Kleinbasel. Dazu gehören die Clara-, die Josephs-, die Michael- und die Christophoruskirche.

Der Glaube zähmt das Raubtier in uns?

Ja, die Kultur und die Religion müssen den ganzen Aufwand bieten, um dem Raubtier Regeln zu geben. Und wenn es keine Regeln mehr gibt, bricht das Raubtier voll durch. 

Sind wir so weit?

Nein, es gibt beide Tendenzen. Da ist einerseits ein grosser Gruppenegoismus, klar. 

Was meinen Sie mit Gruppenegoismus?

Grosse Unternehmen sagen, wir müssten die Steuern runtermachen, bei den Sozialämtern sparen und die Arbeitslosen kürzerhalten, damit sie mehr schaffen. Es herrscht die Gefahr, dass die Starken die Schwachen alleinlassen. Aber es gibt natürlich auch die umgekehrte Tendenz, vor allem hier in Basel.

«Früher musste man Gutes tun, um in den Himmel zu kommen – heute vielleicht, um sein Gewissen zu beruhigen.»

Basel-Stadt hat erst gerade die Prämienverbilligung für Leute mit wenig Geld aufgestockt.

Ja, das soziale Basel ist stark ausgebaut. Während der Industrialisierung waren die Gewerkschaften sehr stark, aber auch christliche Arbeitervereine haben sich solidarisiert. 

Braucht es denn für diese Solidarität Gott? Die Parteien, die sich in Basel die Unterstützung von Schwachen auf die Fahne geschrieben haben, sind rot-grün und haben mit Religion wenig am Hut. Die christlichen Kräfte werden immer schwächer – die CVP hat bei den Grossratswahlen im Oktober einen Sitz verloren, die EVP bleibt bei einem einzigen Sitz. 

Man kann nicht nur staatliche Strukturen aufbauen, man muss sie auch mit den Menschen erfüllen. Und dafür braucht es die christliche Motivation, seinen Nächsten mit ganzem Herzen zu lieben wie sich selbst. Natürlich, früher musste man Gutes tun, um in den Himmel zu kommen. Und heute vielleicht, um sein Gewissen zu beruhigen. Es erinnert uns daran, die Gebote und Gesetze zu erfüllen.



«Dass es in diesem riesigen Universum ein solches Wunderwerk wie den Menschen gibt. Und dass dann dieser Gott selber auch noch Mensch wird und als Jesus auf die Welt kommt, das ist das Verrückteste! Das ist Weihnachten.

«Dass es in diesem riesigen Universum ein solches Wunderwerk wie den Menschen gibt. Und dass dann dieser Gott selber auch noch Mensch wird und als Jesus auf die Welt kommt, das ist das Verrückteste! Das ist Weihnachten.» (Bild: Alexander Preobrajenski)

Für Frauen ist das schlechte Gewissen oft eine Last. Wir haben ständig ein schlechtes Gewissen, weil wir das Gefühl haben, niemandem gerecht zu werden, weder dem Chef, den Kindern, den Eltern noch den Freundinnen.

Es gibt zu viel und zu wenig. Es ist meine Aufgabe als Seelsorger, den Menschen zu sagen, wenn sie zu wenig auf sich selber schauen, aber auch, wenn sie nur an sich selbst denken.

Mein Punkt war: Brauche ich Gott, um ein Gewissen und Mitgefühl zu haben?

Es gibt Menschen, die nicht glauben und sich trotzdem für andere einsetzen. Der Theologe sagt dann: «Auch wenn er nicht glaubt, tut er doch das, was der Glaube bewirken will.»

Also ist der Glaube mehr ein Mittel zum Zweck?

Zur Erziehung des Menschengeschlechts, wie die alten Philosophen sagten? Die würden auch sagen, Vernunft reicht, es braucht keinen Gott.

«Im Advent verbauen die Messeleute uns den ganzen Platz, dann stehen da plötzlich riesige Abfallcontainer vor der Kirchentüre.»

Das würde ich nicht behaupten, Gefühle braucht es auch. Wenn ich zum Beispiel lese, wie ein ghanaisches Buschi nach der Flucht auf dem Schlauchboot so sehr unter Schock steht, dass es nur noch mit aufgerissenen Augen ganz still daliegt, dann denke ich an meine eigene Tochter und könnte heulen, aber Gott brauche ich dafür nicht.

Glauben ist aber schon mehr als Moral und Nächstenliebe. Es ist auch ein Berührtsein von seiner Endlichkeit.

Im Sinne von Demut, dass ich als Individuum nicht die Königin auf Erden bin?

Ja. Oft fängt der Mensch an, sich klein zu fühlen, wenn er seine Mutter beerdigt. Dann merkt er: Ich bin endlich, es gibt noch etwas, das grösser ist als ich. Wenn ich mir vorstelle, dass es in diesem riesigen Universum ein solches Wunderwerk wie den Menschen gibt, das ist einfach unglaublich. Wir können mit den grössten Teleskopen schauen und finden einfach nichts, das vergleichbar wäre. Und dass dann dieser Gott selber auch noch Mensch wird und als Jesus auf die Welt kommt, das ist das Verrückteste an dieser Sache. Darüber zu staunen, das ist Weihnachten. 

Wie findet man im Weihnachtsstress die Ruhe, um zu staunen?

Ja, die Adventszeit ist auch ein bisschen nervig. Man muss sich halt bewusst Zeit nehmen und statt zu motzen jemandem im Büro oder in der Familie etwas Gutes tun. Man könnte zum Beispiel mit der Familie den Adventskranz anzünden und eine Geschichte erzählen oder beten. Oder sich in eine Kirche setzen. Die Clarakirche steht mitten im Einkaufsrummel. Wenn Sie dann in die Kirche kommen, in diesen grossen, schlichten, stillen Raum, der Ihnen Weite gibt, hilft das bereits. Viele Leute kommen auch, um unsere grosse Krippe zu sehen.

Stört Sie der Rummel am Claraplatz?

Hier im Kleinbasel muss man sehr tolerant sein, wir sind uns alles gewohnt. Im Advent verbauen die Messeleute uns den ganzen Platz, dann stehen da plötzlich riesige Abfallcontainer vor der Kirchentüre. Dann muss ich mit den Behörden reden und sagen, das geht nicht. Und der Pfarrer muss schauen, dass die Marktmusik während des Gottesdienstes nicht zu laut ist, das gehört zu seinen Aufgaben.

«Das Christentum kann sich nicht damit brüsten, dass es besser ist als der Islam.»

Suchen auch die Randständigen vom Claraplatz bei Ihnen Zuflucht?

Ja, manchmal legen sie sich auf unsere Kirchenbänke, nehmen Essen hervor und laden ihre Handys oder Computer auf. Manchmal bitten sie die Menschen, welche die Stille suchen, um Geld. Wir haben deshalb Leute angestellt, die schauen, dass Ordnung und Ruhe ist in der Kirche.

Aber Randständige brauchen auch Nächstenliebe, Sie können sie doch nicht rauswerfen.

Nein, natürlich nicht, das wollen wir auch nicht. Unsere Seelsorge ist für alle da. Wir machen auch jedes Jahr eine Weihnachtsfeier für Alleinstehende im Saal der St. Josephskirche. Es kommen immer rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Aber im Advent gehen die Emotionen halt besonders hoch, da gibt es auch Menschen, die frustriert sind und toben. Und wenn dann einer mit einer brennenden Kerze bei der Krippe rumfuchtelt …

… müssen Sie schauen, dass das Stroh unter dem Jesuskindli nicht Feuer fängt.

Genau. Aber wir haben viel Geduld und Ruhe.

Haben Sie diese Ruhe auch in sogenannten Wertedebatten? Etwa bei der Therwiler Handschlagaffäre, bei der zwei muslimische Knaben ihrer Lehrerin die Hand nicht geben wollten?

Wir müssen auch vor Menschen Respekt haben, die anders sind. Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ob er Christ ist oder nicht. Das Christentum kann sich nicht damit brüsten, dass es besser ist als der Islam.

Wir Christen setzen Muslime gern mit Terroristen gleich.

Wenn wir schauen, was die Russen und die Amerikaner, beides christliche Nationen, im Nahen Osten tun, muss man sagen: Die Christen sind nicht besser als islamistische Terroristen. Ich bin überhaupt nicht für Terroristen, aber ob einer von Hand eine Bombe schmeisst oder ob die Bomben aus dem Himmel regnen, was ist da der Unterschied? Aber bei den einen heisst es, das sind die Bösen und bei den anderen die Guten. Da geben wir Christen kein gutes Zeugnis ab. 

Shoppingschlacht, Egoismus, Bomben: Haben Sie noch Hoffnung für uns Menschen? Müssen Sie ja, als gläubiger Christ.

Ja, ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie viel Nächstenliebe es im Kleinen gibt. Ich sehe Nachbarn und Hausbewohner, die sich unterstützen. Und vor ein paar Monaten habe ich eine 90-Jährige beerdigt, die ein eigenes Hilfswerk in Südamerika hatte. Sie hat in der Rebgasse gelebt und sich nur die bescheidensten Mahlzeiten gegönnt und alles, was sie hatte, nach Südamerika gebracht. Kurz vor ihrem Tod ist sie noch einmal geflogen, am liebsten wäre sie dort gestorben. Und dann kommt sie wieder zurück und ist von der Reise so erschöpft, dass sie zwei Tage später stirbt. Sie kam oft zu mir in den Gottesdienst. Im Einzelnen ist so viel Mitgefühl da.

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