Basels Erlenmatt-West soll «2000-Watt-Areal» werden. Fernwärme, Fotovoltaik und Veloparkplätze alleine machen jedoch noch keine 2000-Watt-Gesellschaft. Ohne Veränderungen im Zusammenleben, beim Konsum und der Ernährung wird es nicht gehen.
Es gab eine Zeit, da trafen sich auf der Erlenmatt Wochenende für Wochenende Hunderte, um im nt/Areal bis in die frühen Morgenstunden zu feiern, zu skaten, für Konzerte und improvisierte Flohmärkte. «Erlkönig», «Wagenmeisterei» und «Sonnendeck» hiessen die Brennpunkte, wo sich Basel ein wenig anfühlte wie Berlin.
Wer das miterlebt hat, dem tut der Augenschein an einem verregneten Dienstagvormittag im Sommer 2015 noch immer ein wenig weh. Am südlichen Ende des Erlenmattquartiers spaziert ein Mann mit seinem Hund vor dem kürzlich fertiggestellten Seniorenheim «Senevita». Dort, wo heute ein Coiffeursalon für «Gesundheit und Schönheit» wirbt und das öffentliche Restaurant Entrecôte für 42 Franken anbietet.
2000 Franken für eine 3,5-Zimmer-Wohnung
Auf der etwas weiter nördlich gelegenen Baustelle keuchen Lastwagen, Bagger krächzen, und es hallt metallisch. Hier werden soeben die Baufelder E, F und G fertiggestellt. Erlenmatt West nennt sich dieses Gebäude-Ensemble. Es ist ein sogenanntes Mischnutzquartier mit 574 Neubauwohnungen, Gewerbe- und Freizeitflächen. Um die 2000 Franken Bruttomiete kostet eine 3,5-Zimmer-Wohnung, um die 2500 Franken eine 4,5-Zimmer-Wohnung.
Die ersten wurden bereits bezogen, wie Grills und Wippschaukeln auf den Balkonen bestätigen. Der Blick der Zuzüger fällt derzeit noch auf ein Gewirr aus Baugerüsten und eine hohe Aushubhalde. Von «urban living», wie das Leben in Erlenmatt West in einer Musterwohnung beworben wird, ist derzeit noch nicht viel spürbar.
Erlenmatt West ist eines von acht 2000-Watt-Arealen, die derzeit schweizweit gebaut oder an die entsprechenden Anforderungen angepasst werden. Das vor drei Jahren vom Verein Energiestadt initiierte Zertifikat würdigt Arealentwicklungen auf mindestens einem Hektar Fläche, die den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft verpflichtet sind.
Jeder Bewohner soll langfristig jährlich mit 2000 Watt Primärenergie (heute 6300), mit 500 Watt nicht erneuerbarer Energie (heute 5800) sowie einer Tonne CO2-Emissionen (heute 8,6) auskommen. Zeithorizont ist das Jahr 2150. Das sei zu spät sagen viele Klimawissenschaftler in Hinblick auf die globale Erwärmung. Trotzdem hat die Schweizer Politik sich weitgehend auf das Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft geeinigt.
Weniger Baumaterial und graue Energie
René Bäbler empfängt mich im Baubüro der Losinger-Marazzi AG im 2009 vollendeten Bau Erlentor an der Südseite des Areals. Er ist in der Baufirma Experte für nachhaltiges Bauen und bringt mir während einer stündigen Powerpoint-Präsentation näher, was Erlenmatt West von herkömmlichen Arealen unterscheidet.
«Unser Ziel ist es, mit dem Energieverbrauch von 1960, als wir in der Schweiz noch mit durchschnittlich 2000 Watt lebten, den heutigen Komfort zu garantieren», sagt Bäbler. Um den Kriterien für das Label «2000-Watt-Areal in Entwicklung» zu entsprechen, setzte Losinger-Marazzi bereits bei den Baumaterialien und der grauen Energie an, also derjenigen Energie, die zur Produktion, für den Transport und die Entsorgung des Baumaterials eingesetzt wird. «Je kompakter wir bauen, desto weniger Material und graue Energie verbrauchen wir», erklärt Bäbler.
Deshalb haben die sieben Gebäude des Areals Erlenmatt West schnörkellose, unspektakuläre Fassaden und kantige, kompakte Grundrisse. Die Bauten haben lediglich ein Untergeschoss für Auto- und Veloparkplätze, womit die Aushubmasse verringert und zugleich weniger Beton für Kellergeschosse verbaut wird.
Für die Wärmeversorgung der Gebäude setzt Losinger-Marazzi vollständig auf Fernwärme aus der Kehrichtverbrennungsanlage. Der Strom wird zu rund 30 Prozent über Fotovoltaik auf den Gebäudedächern abgedeckt. Der Rest kommt aus dem IWB-Netz, «ebenfalls zu 100 Prozent erneuerbar», wie Bäbler betont – was in der Schweiz vor allem Wasserkraft bedeutet.
Sämtliche Gebäude sind im Minergie-Standard gebaut, verfügen also über fortschrittliche Dämmeigenschaften. Was das Kriterium der Mobilität angehe, so sei die Lage von Erlenmatt West ideal, meint Bäbler. Bus, Tram, Bahn – alles in Gehdistanz. Krippen und Geschäfte entweder auf dem Areal oder im nahen Umkreis. Zudem baut der Kanton ein Primarschulhaus an der Erlenstrasse.
Auf die 574 Wohnungen von Erlenmatt West kommen nur 364 unterirdische Parkplätze. Man rechnet also damit, dass viele Bewohner auf ein Auto verzichten werden. Dafür gibt es Carsharing-Angebote und 820 Veloparkplätze im Innen- und Aussenraum.
Geschäftsmodell: Nachhaltiges Bauen
Laut Heinrich Guggerli, Projektleiter 2000-Watt-Areal bei Energiestadt, werden schweizweit aktuell rund 30 Projekte bearbeitet, die das Zertifikat anstreben. Dies obschon bislang noch keine Werbung für das Label gemacht wurde.
Das soll sich aber ändern. Es ist also wahrscheinlich, dass wir in den nächsten Jahren noch viel mehr 2000-Watt-Areale sehen werden. Von den acht bereits zertifizierten Projekten stammen drei vom Berner General- und Totalunternehmer Losinger-Marazzi, einer Tochtergesellschaft des französischen Bouygues-Konzerns: Im Lenz in Lenzburg (zwölf Gebäude), Greencity am Fuss des Uetlibergs in Zürich (13 Gebäude) und Erlenmatt West (sieben Gebäude auf 25’600m2).
Erlenmatt West baute Losinger-Marazzi zusammen mit der Grundeigentümerin Bricks Immobilien, die die einzelnen Gebäude an 48 Stockwerkeigentümer und zehn Investoren weiterverkauft hat, darunter Credit Suisse, Vaudoise und mehrere Pensionskassen.
Nachhaltiges Bauen scheint sich als langfristiges und lohnendes Investment etabliert zu haben. Dies obschon die «Basler Zeitung» kürzlich in Erlenmatt West ein «sozialistisches» Quartier ortete, mit einer Fortsetzung von «DDR-Plattenbauten», das die Bewohner zu einem «asketischen Leben mit immer demselben Nachbarn» verdammen soll.
Lieber teilen als besitzen
Was René Bäbler für Erlenmatt West präsentiert ist zeitgemäss, jedoch bei Weitem nicht revolutionär oder visionär. Andere Projekte, die ebenfalls der 2000-Watt-Gesellschaft verpflichtet sind, gehen punkto Nachhaltigkeit im urbanen Raum bereits einen Schritt weiter.
Darunter ist etwa die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich, die für die Zertifizierung als Areal zu kleinräumig wäre. Das unter anderem von ehemaligen Hausbesetzern initiierte Projekt ist punkto Nachhaltigkeit umfassender angelegt als Erlenmatt West. Zusätzlich zu Fotovoltaik, Minergie-P-Eco-Bauweise und 300 Veloparkplätzen verzichten sämtliche 256 Bewohner freiwillig auf ein Auto. Autoparkplätze gibt es keine.
Partizipation und Teilen wird hier gross geschrieben. Anstelle von eigenen Waschmaschinen und Tiefkühltruhen nutzen die Bewohner diese Geräte gemeinsam. Mit sinnvollen Nebeneffekten: Aufgrund der Grösse der Kühltruhe lohnt sich eine Wärmerückkopplung. Die Wohnfläche in der Kalkbreite beträgt durchschnittlich 35 Quadratmeter pro Person, das sind zehn Quadratmeter weniger als der Schweizer Durchschnitt. Dafür stehen über 800 Quadratmeter Gemeinschaftsfläche zur Verfügung, unter anderem in Form einer Cafeteria, eines Sportraums und einer Sauna.
Anstelle von individuellen Gästezimmern, welche die meiste Zeit leer stehen, gibt es im Haus eine Pension, die nach Bedarf gemietet werden kann. Ein hauseigener Koch kocht für die Kita und versorgt abends einen Teil der Bewohner – mit Produkten aus der Umgebung und vorwiegend vegetarisch.
Weniger Energieverbrauch, weniger Nahrungsmittelabfälle und entspanntere Abende sind das Resultat. Auch wenn sich viele ein solches Wohnmodell nur schwer vorstellen können: Ohne Veränderungen bei der Ernährung und im Konsumverhalten werden die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft nicht erreichbar sein. Diese beiden Bereiche sind nämlich für 54 Prozent unseres Primärenergieverbrauchs von derzeit 8300 Watt Dauerleistung verantwortlich (inklusive importierter Waren und Dienstleistungen). Die Gebäudeenergie und Mobilität machen lediglich 38 Prozent aus.
Von asketischem Leben oder «Öko-Ghetto» kann in der Kalbreite aber keine Rede sein. Vielmehr wundert man sich, wie der massive Neubau in nur einem Jahr zu einem lebendigen und attraktiven Miniquartier heranwachsen konnte.
Soziale Durchmischung dank App
Auch Erlenmatt West soll einst zu einem «attraktiven, lebendigen und durchmischten Areal» werden, sagt René Bäbler. Die soziale Nachhaltigkeit sei seinem Unternehmen wichtig. Dafür hat Losinger-Marazzi unter anderem die «Erlenapp» entwickelt. Die erste spezifisch auf ein Quartier zugeschnittene App.
Neben Informationen zu Wohnungsgeräten, Gebäudetechnik und eigenem Energieverbrauch sollen sich die Bewohner auch darüber austauschen und vernetzen, indem über die App Veranstaltungen und Treffen organisiert werden.
Zugleich arbeitet die Baufirma mit der Mobilen Jugendarbeit Basel und dem Quartierverein V.i.P zusammen, um den Austausch im Quartier zu fördern. Andrea Blattner, Geschäftsleiterin von V.i.P, ist grundsätzlich zufrieden mit der bisherigen Zusammenarbeit. Sorgen bereitet ihr einzig, ob die künftigen Inhaber der Gebäude die Ziele des 2000-Watt-Areals, vor allem auch in sozialer Hinsicht, weiterverfolgen werden. Das wäre die Voraussetzung, damit aus Apps Nachbarschaften werden und sich aus «urban living»-Slogans städtische Lebensqualität entwickelt.