Nun geht er los, der Themenmonat zur Schweizer Geschichte im Schweizer Fernsehen. Kernstück sind vier Filme über bedeutende Schweizer Männer. Geschichtsprofessor Lucas Burkart hat die ersten beiden Folgen bereits gesehen – und ist enttäuscht.
Es ist, als ob der feuchte Traum eines Mittelschullehrers in Erfüllung gegangen wäre. Die ganze Schweiz diskutiert. Über Geschichte! Über Schweizer Geschichte! Noch bevor der Themenmonat der SRG überhaupt startete, gingen die Wogen hoch. Es gab heftige Kritik («Diese Menschen haben die Schweiz geprägt», heisst es im Vorspann – und dann kommen nur Männer. Frauen finden, wenn überhaupt, nur nackt statt, wie es der «Blick» schön auf den Punkt gebracht hat), es gab Zuspruch (etwa von der sonst nicht sehr SRG-freundlichen «Weltwoche»), es gab Verteidigung (vom leicht pathetischen Generaldirektor Roger de Weck himself in der NZZ) und es gab Programmanpassungen.
Nach der Ausstrahlung des ersten Teils der Dokufiction «Die Schweizer» über Werner Stauffacher von heute Donnerstagabend wird etwa ein Zischtigsclub über die Rolle der Frauen in der Schweizer Geschichte diskutieren. Das Frauenbild (das fehlende Frauenbild) ist eine der Hauptkritikpunkte am Themenmonat, in dessen Zentrum vier aufwendig produzierte Dokumentationen stehen. In den ersten beiden Filmen geht es um die Entstehungssaga der Alten Eidgenossenschaft, inklusive Willhelm Tell, Niklaus von Flüe (dem in einer Vision das brennende Liestal erscheint, ein stattliches Städtchen damals noch) und Hans Waldmann, ein ständig schreiender, ständig fluchender Frauenheld mit unmöglichem Bart.
Unmögliche Bärte, unmögliches Geschichtsbild
In den anderen beiden Filmen geht es um den Sonderbundskrieg, den jungen Bundesstaat und die Eroberung des Gotthards durch hart arbeitende und unterbezahlte Mineure. Garniert wird der Themenschwerpunkt durch verschiedene Sendungen auf verschiedenen Kanälen. Und auch Unterrichtsmaterial für die Schule ist zu haben. Da wird dann beispielsweise gelehrt, dass die Schweiz durch den Rütlischwur 1291 entstanden sei. Inklusive Arbeitsblatt und vorgedruckten Lösungen.
Es ist dieses altertümliche Geschichtsbild, das Lucas Burkart (46), frisch berufener Professor für die Geschichte des Spätmittelalters und der Renaissance an der Universität Basel, am Themenschwerpunkt «Schweizer Geschichte» stört.
Herr Burkart, seit Wochen tobt ein Streit um die Serie «Die Schweizer», deren erster Teil über Werner Stauffacher heute Abend ausgestrahlt wird. Freut man sich als Geschichtsprofessor, wenn sich eine breite Öffentlichkeit plötzlich für Geschichte interessiert?
Lucas Burkart: Absolut. Die Tatsache, dass die SRG Geschichte ins Publikumsmedium Fernsehen bringt, begrüsse ich sehr. Auch dass eine animierte Debatte bereits vor der Ausstrahlung der vier Hauptteile stattfindet, gefällt mir. Und debattiert wird zu Recht: Denn über das Resultat der Serie, so weit ich es gesehen habe, kann man geteilter Meinung sein.
Sie haben sich die ersten beiden Folgen bereits angeschaut. Sind sie sehenswert?
Ich rate jedem und jeder, sich das anzuschauen, um bei der Debatte mitmachen zu können. Ich teile das Anliegen des Fernsehens, die Vertrautheit und Kenntnis der Schweizer Geschichte zu vertiefen. Aber ob die Serie sehenswert ist? Das lässt sich nicht mit Ja oder Nein beantworten. Das kommt auch auf die Perspektive an: Ob ich die Serie aus geschichtswissenschaftlicher Sicht bewerte oder als Fernsehkonsument.
Machen wir eines nach dem anderen. Zuerst der Fernsehkonsument.
Als Konsument hätte ich nicht bis zum Schluss zugeschaut. Ich fand es relativ langweilig. Die Umsetzung als Dokufiction hat mich nicht überzeugt. Ich finde es schade, haben die Macher dem fiktionalen Teil der Serie nicht mehr Chancen gegeben – und das bei einem Medium, das Tag für Tag fiktionale Inhalte produziert.
Was hätte anders sein sollen? Hätte man nicht nur den Abend vor der Schlacht bei Morgarten zeigen sollen, sondern auch die Schlacht selbst?
Nein, darum geht es nicht. Sondern um die Frage, welchen Raum die fiktionale Erzählung eröffnet und welche Geschichte in diesem Raum erzählt werden kann. Welche neue Geschichte! Stattdessen bewegen sich die Darsteller in den historischen Kostümen entlang von tradierten, wenn nicht gar traditionellen historiografischen Mustern.
Gleichzeitig werden die Mythen von den Historikern im Film aber auch kritisch hinterfragt.
Das Anliegen der Filme ist es, die Mythen der Schweizer Geschichte zu zertrümmern. Was dabei schiefgeht: Der fiktionale Teil der Filme macht nichts anderes, als die Mythen fortzuschreiben. Die Experten relativieren und korrigieren zwar, bewegen sich aber im Grundmissverständnis, dass man mit der Zertrümmerung der Mythen die Mythen hinter sich lassen könnte. Das ist nicht so. Es wäre doch viel interessanter gewesen, die Mythen tatsächlich hinter sich zu lassen, neue Perspektiven einzunehmen, andere Fragen zu stellen. Das hätte auch mehr mit der aktuellen Forschungssituation zu tun als der alte Plot «Die Eidgenossenschaft ist aus dem Bund der drei Orte entstanden». Das ist eine Perspektive der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts und spart viele Dinge aus, die für die Entstehung der heutigen Schweiz mindestens so wichtig gewesen waren.
Zum Beispiel?
Schnell haben alle gemerkt, dass die Frauen fehlen, weil sich die Macher auf die bekannten Akteure beschränkten. Auf jene Männer, die formal Herrschaft ausübten. Das Argument, dass es halt Männer waren, die formal Herrschaft ausübten, trifft jedoch nicht zu. Im Adel gab es durchaus Frauen in bestimmenden Positionen. Aber der Adel gehört in der Perspektive des 19. Jahrhunderts nicht zum ureidgenössischen Kern. Bauern und Bergler müssen die Schweizer sein, der Adel ist der Feind. Dabei war das wahrlich nicht so.
«Was erfährt man über die Gesellschaft? Was erfährt man über Ressourcen? Über die Aussenbeziehungen?»
Und abgesehen von den Frauen?
Was erfährt man über die Gesellschaft? Was erfährt man über Ressourcen? Über die Aussenbeziehungen? Vor allem der letzte Punkt hat mich nachhaltig irritiert. Die Filme sind eine Rückkehr zur Nationalgeschichte mit jenen Stationen, die im 19. Jahrhundert als prägend für die Schweizer Geschichte definiert wurden. Morgarten als siegreiche Konfrontation mit einem übermächtigen Feind, die Burgunderkriege gefolgt von der Kohäsion nach innen und der «Neutralität» nach aussen nach dem Stanser Verkommnis von 1481. Die nächste Station im dritten Film ist dann das einigermassen glimpfliche Ende des Sonderbundkrieges sowie im vierten Teil schliesslich selbstverständlich das liberale Unternehmertum, gepaart vom Wissenschaftsstandort in der Gründung der ETH. Das ist doch eine sehr allein stehende Schweiz, die sich selbst genügt und ohne jedes Aussen auszukommen scheint.
Jene Stationen der Schweizer Geschichte lassen sich gut an Personen erzählen.
Was ja auch in Ordnung ist. Aber warum nimmt man dann einen Mann wie Stauffacher, von dem man gar nicht weiss, ob er überhaupt eine bestimmende Rolle gespielt hat? Warum wird Morgarten derart ins Zentrum gerückt? Das war ein Ereignis von höchstens lokaler Bedeutung. Hier hätte man stärker auf die Fiktionalität als Darstellungsform setzen können. Warum erzählt man nicht die Geschichte einer Städterin aus dem 14. Jahrhundert oder eines Bauern, mit denen sich als fiktionale Figuren eine Geschichte erzählen lässt? Und da kommen wir zur Kernfrage: Was will man eigentlich für eine Geschichte erzählen?
Unter anderem eine Freiheitsgeschichte. In der ersten Folge schreibt Werner Stauffacher einen Königsbrief, weil er «frei sein» will. Eine Erklärung, was Freiheit im 14. Jahrhundert bedeutet, die fehlt allerdings.
Ja. Das war keine absolute Freiheit, wie wir sie heute denken. Sondern eine Freiheit, die sich in ein System von Abhängigkeiten einordnet. Die Forschung zeigt, dass die Bedrohung dieser Freiheit nicht primär vom habsburgischen Hochadel ausging, sondern eher vom lokalen Adel, den Klöstern und den expandierenden Städten. Von dieser Seite war die Bedrängnis der Menschen viel stärker.
Warum gibt es heute immer noch einen Drang der Menschen, sich in einer Geschichte zu verorten, die vor Hunderten von Jahren stattgefunden hat?
Ich bin mir nicht sicher, wie gross dieser Drang tatsächlich ist. Man kommt heute auch gut durchs Leben, ohne eine Ahnung davon zu haben, woher wir als Gesellschaft kommen. Als Historiker bedauere ich das natürlich. Der Drang nach Geschichte kommt eher von der Politik, wo die Geschichte ein Legitimationspotenzial für den politischen Diskurs bietet. In den letzten Jahrzehnten war es fast ausschliesslich die SVP, die die Schweizer Geschichte für ihre politischen Ideen fruchtbar machen konnte. Das neu erwachte Interesse an der schweizerischen Geschichte, das nun bei diesem Themenmonat deutlich wird, hat meiner Meinung nicht zuletzt damit zu tun, der Deutungshoheit der SVP etwas entgegen zu setzen.
«Das ist meine Kritik an der Serie: Statt zu erzählen, wie die Schweiz im 14. und 15. Jahrhundert im europäischen Kontext eingebettet war, wird aus Gründen der inneren Kohäsion die alte Nationalgeschichte neu erzählt.»
Was der Serie – wenn man Ihnen zuhört – allerdings nicht gelingt.
Das ist meine Kritik an der Serie: Statt zu erzählen, wie die Schweiz im 14. und 15. Jahrhundert im europäischen Kontext eingebettet war, in einem Gebiet, in dem es keine Grenzen gab, wie wir sie heute kennen, wird aus Gründen der inneren Kohäsion (wie das SRF-Generaldirektor Roger de Weck in der NZZ festgehalten hat) die alte Nationalgeschichte neu erzählt – mit den Habsburgern als ewigen Feinden. Dabei waren die Habsburger in erster Linie ein Aargauer Adelsgeschlecht mit einer steilen Karriere in Europa, die immer wieder mit Orten der Eidgenossenschaft Bündnisse eingingen.
Verschiedene Historiker treten in der Serie als Experten auf. Man hätte diese Geschichten doch auch bei ihnen abfragen können.
Ja. Aber dafür können die Historikerinnen und Historiker nichts, das sind alles ausgewiesene Spezialisten auf dem Gebiet. Die Historiker wurden zum falschen Zeitpunkt angefragt; als bereits ein Konzept existierte und klar war, dass man die Mythengeschichte erzählen wollte. Eine verpasste Chance.
«Die Schweizer – Schlacht am Morgarten, Werner Stauffacher», Donnerstag, 7. November, 20.05 Uhr.