Die Gesellschaft hat auf «live» umgeschaltet

Ein Auto mit sechs Jugendlichen durchbricht in Zürich eine Polizeisperre. Auf der Flucht verunfallen die Minderjährigen. Eine 16-Jährige stirbt. Der Blick und TeleZüri zeigen ein Video, das ein Augenzeuge gedreht hat, noch bevor Rettungskräfte am Unfallort eintrafen. Damit erreicht die «Berichterstattung» von Leserreportern eine neue Stufe. Die bislang als Gummihälse geächteten Schaulustigen kennen weder journalistische Regeln noch ethische Grundsätze.

Es gibt keine Events ohne Kamera mehr. (Bild: Reuters/ Eddie Mulholland)

Ein Auto mit sechs Jugendlichen durchbricht in Zürich eine Polizeisperre. Auf der Flucht verunfallen die Minderjährigen. Eine 16-Jährige stirbt. Der Blick und TeleZüri zeigen ein Video, das ein Augenzeuge gedreht hat, noch bevor Rettungskräfte am Unfallort eintrafen. Damit erreicht die «Berichterstattung» von Leserreportern eine neue Stufe. Die bislang als Gummihälse geächteten Schaulustigen kennen weder journalistische Regeln noch ethische Grundsätze.

Auf der Flucht vor der Polizei verunfallen in Zürich sechs Jugendliche. Eine 16-Jährige stirbt. Der Blick zeigt eine Videoaufnahme von einem Augenzeugen Minuten nach dem Unfall. «Eine gespenstische Szene: Es ist ruhig», schreibt der Blick. Der Unfallfahrer irre verwirrt umher. «Seine Hände sind blutig, sein Gesicht ebenso.» Er habe im Fall keine Autoprüfung, höre man ihn leise sagen. Das Video scheint sich zum Renner zu entwickeln. Der Artikel zum Unfall ist der am meisten gelesene am frühen Sonntagabend. Auch TeleZüri zeigt das Handy-Video. Angeblich hat ein gewisser «Slatan» gefilmt. Dieser will auf dem Zürcher Fernsehsender unerkannt bleiben. Während der Zuschauer- respektive Leserreporter die Unfallszene beschreiben darf, filmt der Sender nur seine Trainerhosen. 

Die TagesWoche verzichtet bewusst darauf, einen Link zu diesem Video zu setzen. Denn damit erreicht die «Berichterstattung» von Augenzeugen der ersten Minuten von Unglücksfällen und Verbrechen eine neue Stufe. TagesWoche-Redaktor Peter Sennhauser hat für die aktuelle Print-Ausgabe der Tageswoche, die am 23. März 2012 erschienen ist, den folgenden Artikel zu diesem Phänomen geschrieben:

Die Gesellschat hat auf «live» geschaltet

Ein silbernes und ein schwarzes Auto stehen auf einer dreispurigen Autobahn nebeneinander, dahinter ist unscharf eine Person in Warnfarbenweste zu sehen. Am unteren Bildrand ist die Mittelleitplanke zu erkennen, am rechten Rand ein Stück Innenraum des Fahrzeugs, aus dem die Aufnahme offensichtlich geschossen wurde.

Dieses Bild eines «Leserreporters» veröffentlichte die Basler Zeitung in ihrer online-Ausgabe am frühen Morgen des 14. März 2012, dem Tag nach der «Amokfahrt» in Basel und dem verheerenden Busunglück im Wallis, zu einem Bericht über einen tödlichen Motorradunfall auf der A2 bei Pratteln (inzwischen aktualisiert).

Die Fotografie ist journalistisch wertlos, und «darauf war nicht viel zu sehen», sagt auch der Leiter der BaZ-Online-Redaktion, Alexander Müller, auf Anfrage. Man brauche eben zu jedem Text ein Bild. «Wir publizieren, was wir kriegen können. Und das Leserbild war besser als ein Symbolbild eines Pannendreiecks.»

Dass nicht nur das Bild, sondern auch die erste Fassung des Berichts, die ausser dem ungefähren Ort keinerlei Übereinstimmungen mit dem inzwischen publizierten Polizeimaterial hatte, sich auf Augenzeugen berief und offenbar einen Folgeunfall auf der Einfahrt Pratteln schilderte, daran kann sich Müller nicht erinnern: «Wir konzentrierten an diesem Tag alle Kräfte auf die Amokfahrt in Basel.»

Das ist, was Medienwissenschafter Vinzenz Wyss, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikation und Medienwissenschaft SGKM, befürchtet: Dass nicht die «Leserreporter» anhand des Vorbilds der professionellen Redaktionen die journalistischen Regeln kennenlernen und adaptieren, sondern dass umgekehrt der Journalismus die schnelle und unbedachte Art der Publikation der digitalen Amateurreporter übernimmt.

Dabei, sagt Wyss, sei «Willkür keine neue Erscheinung im Nachrichtenwesen, sie herrschte auch in den Anfängen des Journalismus. Das ethische und handwerkliche Regelwerk ist in einer langen Tradition entstanden.» Aber die Pressefreiheit garantiere nicht nur jedem, dass er Inhalte verbreiten darf. Damit gehe auch eine Verantwortung einher.

Medien sind gefordert

Diese müssten jetzt die etablierten Medien verstärkt wahrnehmen und eine Vorbildfunktion ausüben. Mit ständiger Meta-Information darüber, wie sie mit Quellen umgehen und was ihre Filter- und Beurteilungsstandards seien, müssten sie der Gesellschaft die Regeln des Journalimus verdeutlichen. «Wenn aber Redaktionen ausgepresst und aufgrund ökonomischer Vorgaben unsorgfältiger werden, können sie den Qualitätsstandard, auf Grund dessen sie eine erhöhte Glaubwürdigkeit geniessen, nicht halten.»

Schlimmer noch. Mit der unreflektierten Publikation fragwürdigen Materials wird Laien mit Smartphone ein Ansporn geliefert, es dem «Leserreporter» auf der A2 gleich zu tun. Dabei galten noch vor wenigen Jahren Gummihälse, die auf der Gegenspur allen Strassenverkehrsgesetzen zum Trotz abremsten, um einen Blick auf Verletzte und Tote zu erhaschen, als verachtenswürdig.

Heute schiessen sie aus dem fahrenden Fahrzeug ein unscharfes Bild und werden mit der Veröffentlichung in einem Leitmedium belohnt. (Oder gar mit Bargeld: 50 Franken winken bei vielen Redaktionen dem, der etwas «Publikationswürdiges» anliefert. Dass Profifotografen gemäss Berufsverbänden für ihr erstes Bild eines Ereignisses rund das Vierfache zusteht, verdeutlicht, welchen Vorteil sich Verlage von den Leserreportern erhoffen. Das Bild von der A2 allerdings ist nicht bezahlt worden, sagt Alexander Müller).

Leserreportern fehlt der jorunalistische Filter

Den Vorbildeffekt der Veröffentlichung kennt Hansi Voigt, Chefredaktor von «20Minuten Online», nur zu gut. Täglich gehen auf der Redaktion zwischen 70 und 100 Zusendungen ein. Bei Naturphänomenen etwa sind es schnell Tausende. Das Material werde behandelt wie jenes aus jeder anderen Quelle – wenn nicht noch vorsichtiger: «Weil von der Leserschaft eine erste journalistische Beurteilung nicht erwartet werden kann, ist die Überprüfung des eingesandten Materials strenger als etwa von Agenturbildern. Da gehe ich davon aus, dass ich mit Profis zu tun habe,  die das Handwerk und die ethischen Grundsätze kennen.» Und: «Es ist ausserordentlich wichtig, dass wir verdeutlichen, was wir warum sichtbar machen. Würden wir schockierende Bilder publizieren, wir würden laufend mehr davon erhalten.»

Nicht alle Medien halten sich an diesen Grundsatz und damit die Forderung von Vinzenz Wyss. Der «Blick» etwa publizierte am Morgen nach der Amokfahrt Bilder, auf denen Verletzte in ihrem Blut liegen, an Kleidung und den Fahrrädern in der Nähe durchaus erkennbar. Auf den gleichen Bildern (die der Tageswoche angeboten wurden, die wir aber abgelehnt haben) sind im Hintergrund in der Menschenmenge Leute zu erkennen, die mit dem Smartphone Aufnahmen zu machen scheinen.

So schockierend das auf den ersten Blick scheint: Der emeritierte Medienprofessor Roger Blum hält es für eine allgemeine Entwicklung, dass wir mit den neuen Mitteln nicht mehr wie früher vor allem unser Privatleben, sondern zusehends alles, was aussergewöhnlich ist im Alltag, festhalten.

Spekulationen und subjektive Eindrücke

Aber eben nicht nur das. Die meisten von uns stellen solches Material sogleich via Facebook oder Twitter einer grösseren Öffentlichkeit als Nachricht zur Verfügung. Das Problem daran ist, dass nicht jede Dokumentation eine «Nachricht» ist: Was auf den Bildern zu sehen ist, was Augenzeugen berichten, sind Subjektive Erfahrungen, Ausschnitte und damit Spekulationen.

«Wie schwierig es ist, nach einem Ereignis in allen Details zu erfassen, was wirklich geschehen ist, das weiss jeder Ermittler», sagt Martin Schütz, Sprecher des Sicherheitsdepartements des Kantons Basel-Stadt. «Wir halten deshalb am unverrückbaren Grundsatz fest, dass wir nur Informationen weiter geben, die verifiziert sind.» Woraus der Konflikt entstehen kann, dass Angehörige und Freunde anhand von Bildern in den sozialen Medien lange vor der Benachrichtigung durch die Behörden erfahren, dass einem ihrer Lieben etwas zugestossen ist – ohne genau zu wissen, was.

«Hier stellen sich nicht nur ethische, sondern auch rechtliche Fragen,» merkt Medienexperte Roger Blum an. «Aus ethischer Sicht gilt es im Journalismus als untragbar, Opfer von Unfällen, Verbrechen oder auch kriegerischen und terroristischen Handlungen erkennbar zu zeigen.» Dieser Grundsatz ist in Redaktionen teilweise, in den Köpfen der Medienkonsumenten aber gar nicht bewusst vorhanden. Dass es ausserdem das Recht am eigenen Bild und die Unantastbarkeit der Würde des Einzelnen gibt, die mit solchen Bildern verletzt werden und damit Grund zu Klagen geben, wissen ebenfalls nur wenige der Smartphone-Reporter.

Tatsächlich wird sogar die Schwelle für den Journalismus eigentlich höher, solche Bilder zu zeigen – denn wenn bisher Individuen erkennbar gemacht werden konnten, weil im Verbreitungskreis des Mediums nicht davon ausgegangen werden musste, dass Angehörige das Material sehen, hat sich das mit der Globalisierung der Medien geändert.

Medialer Nothelferkurs

Demnach müssten sich nicht nur Journalisten, sondern die ganze Gesellschaft endlich mit einer Form der Medienkomptenz beschäftigen, die nicht nur die Konsumenten-, sondern auch die Seite der Medienmacher einbezieht. Roger Blum wendet dagegen ein, dass man nicht aus jedem Smartphone-Besitzer einen Journalisten machen müsse, so wenig wie man aus allen Menschen Ärzte mache. Dem ist zu entgegenen, dass immerhin jeder, der autofahren will, einen Nothelferkurs und jeder Hundekäufer einen Hundehaltungskurs besuchen muss. 

Die Vervielfältigung der Kanäle, die «Demokratisierung» der Nachrichtenströme, macht auch jenen Stellen die Einhaltung der eigenen Regeln schwer, die sich keinesfalls aus Tempodruck auf das Niveau der Spekulation herablassen dürfen. Solange Augenzeugen ihre Schilderungen nur einem sehr beschränkten Kreis weitergeben konnten, liessen sich in berechtigten Fällen sogar die Medien davon überzeugen, dass mit einer Nachricht zugewartet werden sollte.

Heute kann die Verbreitung von Unfallbildern via Soziale Medien nicht und in den professionellen Medien je länger je wniger gebremst werden. Diesen Trend sehen die Infostellen des Basler Sicherheitsdepartementes an Bagatellfällen: «Wir verzeichenen eine deutliche Zunahme von Anfragen aus Redaktionen, wenn schon nur irgendwo drei Streifenwagen zugleich stehen», sagt Martin Schütz. Alarmiert von den Amateurberichterstattern auf Twitter, verlassen sich Journalisten nicht mehr auf herkömmliche Informationskanäle und fragen nach. Auch dann, wenn die Polizisten lediglich in der Pause gemeinsam einen Kaffee trinken wollen.

Smartphone-Gesellschaft macht Tempodruck

Noch haben die etablierten Medien eine Vorreiterrolle, was Glaubwürdigkeit und Reichweite angeht. Gemäss Wyss und Blum müssten sie diese ausbauen, statt sich dem Tempodruck der Smartphone-Gesellschaft anzupassen.

Vorderhand sieht auch Martin Schütz noch keinen Druck, die Informationsabläufe beim Sicherheitsdepartement zu verändern und früher und damit weniger sorgfältig zu informieren.

Hansi Voigt dagegen ist überzeugt: Die Welt hat vor Jahren bereits auf live-Betrieb umgestellt, und die Medien können sich dem nicht entziehen. Wie allerdings der auch von ihm als unabdingbar bezeichnete Filter durch eine professionelle Redaktion funktionieren soll, wenn «20 Minuten online» dereinst wie von Voigt angetönt mit Handy-Videotelefonie «Leserreporter» live zu «Leser-Kameraleuten» macht, bleibt abzuwarten.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten Ausgabe der «TagesWoche» vom 23. März 2012. Ergänzt und erweitert zwei zusätzlichen ersten Abschnitten am 25. März 2012 

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