Die Immer-und-alles-Generation

Sie sind in mehreren Jobs gleichzeitig tätig, kennen kaum mehr eine Grenze zwischen Arbeit und Freizeit: Warum tun sich immer mehr junge Leute freiwillig solchen Stress an?

Seit Jahren Spitzensportlerin – und nebenbei Fachspezialistin für Sportförderung beim Sportamt in Bern: Simone Merkli (25). (Bild: Livio Marc Stöckli)

Sie sind in mehreren Jobs gleichzeitig tätig, kennen kaum mehr eine Grenze zwischen Arbeit und Freizeit: Warum tun sich immer mehr junge Leute freiwillig solchen Stress an?

Wer die Wahl hat, hat die Qual, sagt der Volksmund. Wirklich? Ist die Vielfalt an Möglichkeiten Segen oder Fluch? Macht das krank oder eher kreativ? Und ist es wahres Interesse, wenn man gefragt wird: «Was machst du eigentlich beruflich?» Oder will hier einfach wieder jemand wissen, womit man sich sein Leben finanziert?

Sagt man dann zum Beispiel «Ich bin Musiker/Designer/Kunstlehrer», reagiert das Gegenüber in der Regel mit Erstaunen. Doch das sind alles «richtige Berufe», keine Teilzeitbeschäftigungen. Zumindest für die Generation Slash. Eine Generation, die sich ständig zu verlieren scheint, um sich tags darauf neu zu erfinden. Was steckt dahinter? Ein Lebensgefühl? Oder gar ein neues berufliches Konzept als Antwort auf die Dynamik der Zeit?

Patricia Meyer hat Englisch, Deutsch und Sport studiert. Diese Fächer unterrichtet die 33-Jährige auch an einer Projektschule. Neben der beruflichen Herausforderung gab ihr dieser Job die Möglichkeit, sich ein Zweitstudium in Kunstgeschichte zu finanzieren. Zusätzlich arbeitet sie in einer Galerie in Zürich. Die Flüge an Kunstmessen bekommt sie bezahlt, manchmal reicht es auch für ein ordentliches Taschengeld. Und daneben bleibt sogar noch genug Raum für eigene Projekte. Dank diesen Einkünften kann sie die Krankenkassenprämie bezahlen, und es reicht für eine Wohnung in einem tollen Haus.

Überstunden gibt es nicht

Dieses teilt sie mit Marco Bamert (34), der sich als Architekt vor zwei Jahren selbstständig gemacht hat. Sein Kapital ist sein Büro. Überstunden gibt es nicht mehr. Er arbeitet einfach immer. Immerhin weiss er, was er bei der Steuererklärung für eine Berufsbezeichnung hinschreibt. Im Gegensatz zum 49-jährigen Klaus Affolter (Filmemacher, Grafiker, Illustrator, Webdesigner), der dankbar ist, dass es Begriffe wie «Multimedia» gibt. Max Zitzer (35) ist Musiker, Designer, Kunstlehrer; Brigida Brunetti (37) ist bildende Künstlerin, macht als gelernte Verlagskauffrau Pressearbeit und studiert berufsbegleitend Kunsttherapie; Simone Merkli (25) ist Tänzerin und arbeitet beim Sportamt; Rahel Dondiego (26) arbeitet für Kino, Radio und Theater; Cynthia Scarpatetti (33) ist Lehrerin, in ihrem letzten Ausbildungsjahr zur Naturärztin (TCM) und kurvt trotzdem leidenschaftlich gerne als Velokurierin durch die Stadt.

Sie sind überall, diese urbanen Fleissigen mit mindestens einem Slash in ihrer Berufsbezeichnung. Was treibt diese Generation an? Was steckt hinter diesen multiplen Ich-Verwirklichungsmenschen, die sich aufgrund der vielen Möglichkeiten nur schwer entscheiden können, heute A zu sagen und morgen B – das aber mit Überzeugung tun und immer auf der Suche nach der Balance zwischen all den Slashs und dem Wunsch, sich selber treu zu bleiben?

Für die Generation Slash ist der Schrägstrich in den Berufsbezeichnungen ein trennendes und verbindendes Element zugleich.

Für die Generation Slash ist der Schrägstrich in den Berufsbezeichnungen ein trennendes und verbindendes Element zugleich. So ist Max nicht bloss Musiker oder Designer oder Lehrer, sondern in der jeweiligen Rolle immer alles und vor allem einfach sich selber, unabhängig davon, ob er im Klassenzimmer, im Kunstraum oder im Tonstudio sitzt.

Die schier unendlichen Wahlmöglichkeiten und die damit verbundenen Entscheidungen, die gefällt werden müssen, prägen die Generation Slash. Denn wer die Wahl hat, hat wirklich die Qual und garantiert Fragen im Kopf wie: Was wäre, wenn ich nicht A, sondern B gesagt, nicht C, sondern D studiert, nicht E, sondern F geknutscht hätte? Was, wenn ich in I 
geboren wäre und nicht in J, ein K wäre, statt ein L? Und wie um Himmels Willen entscheidet man 
sich richtig?

In einer Zeit, wo man nach dem zweiten Praktikum vielleicht einen befristeten Arbeitsvertrag vorgelegt bekommt («Schwangerschaftsvertretung und danach sehen wir weiter…») und man sich die Frage «Und was jetzt?» fast so häufig stellen muss, wie Facebook nach einem Status verlangt, ist es kein Wunder, dass «flexibel» und «dynamisch» oft genannte Anforderungen in Stellenangeboten sind.

Trend zu Lebensabschnitts-Jobs

Die Generation Slash ist das. Flexibel und immer bereit, den Schwerpunkt auf einen anderen Teil der Slash-Kette zu legen. Wozu sie nicht bereit ist, ist Kompromisse zugunsten einer steileren, geradlinigen Karriere und vordergründig mehr Sicherheit einzugehen. Sie will nicht um die Work-Life-Balance kämpfen, weil ohnehin nicht mehr so klar zwischen Arbeit und Freizeit unterschieden werden kann. «Die Grenzen vermischen sich extrem», sagt Patricia. «Wenn ich nach London zur Kunstmesse kann, ist es Vergnügen, Ferien und Arbeit zugleich.»

Kein Wunder, ist die Generation Slash als Sujet auch schon in der Werbung angekommen – etwa bei EasyJet, die ganz auf die jungen Mobilen setzt. Die Billig-Airline umschreibt diese Jetztzeitmenschen so: Die «Kopfüber in die Fluten, ins Vergnügen oder in die Arbeit»-Generation. Die «Sich auf den Weg machen, einen Deal machen und mit einer Geschichte zurückkommen»-Generation. Die «Zurück im Büro, aus dem Fenster starren, lass uns alles nochmal machen»-Generation.

Es wird heute mehr über die Cloud kommuniziert als direkt. Multitasking ist das oberste Gebot.

Worte wie «Feierabend» oder «Überzeit» kommen bei der Generation Slash höchstens noch im Arbeitsvertrag vor. Wenn überhaupt. Gerade in der Kommunikations- und Kulturbranche wird diese Arbeitshaltung erwartet, denn Leute, die gerne «etwas mit Medien» machen oder in der Werbung und Architektur arbeiten wollen, gibt es übergenug. Hinzu kommt, dass starre Abteilungsstrukturen immer öfter durch Projektteams ersetzt werden.

Der Trend geht in Richtung Lebensabschnittjobs und befristete Arbeitsverträge. Die neuen Medien und sozialen Plattformen sind an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Dank dem Internet steht uns die Welt offen wie nie zuvor, und ein Marktplatz für eigene Ideen ist schnell gefunden. Die rasante Entwicklung der Technik hat Einfluss auf uns und unser Verhältnis zur Arbeit. Denn mit der Zeit zu gehen bedeutet heute mit der Zeit zu gehen und bereit zu sein, wieder etwas anderes zu machen.

Soziale Medien machen es möglich

So ist es unterdessen schon fast normal, dass man verschiedene Berufe hat und sich in (teilweise virtuelle) Ichs aufspaltet. So hat Max ein Musiker-Ich, ein Grafiker-Ich, ein Lehrer-Ich, und wenn er auf frühere Schützlinge aus dem Heim trifft, auch noch ein Sozialarbeiter-Ich. Und all diese Ichs können dank dem Smartphone ganz einfach auf unterschiedlichen Kanälen angesprochen werden. «Ich habe zwar für jeden Bereich eine andere E-Mail-Adresse, aber trotzdem nur einen Briefkasten», sagt Max.

Die Zahl der Personen in der Schweiz, die mehr als einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ist seit Beginn der 1990er-Jahre deutlich gestiegen. Schweizer Statistiken erfassen die individuellen Beweggründe solcher Slash-Berufskonzepte allerdings nicht. «Bisher gibt es kaum wissenschaftlich abgestützte Erkenntnisse darüber, warum Menschen mehrfach erwerbstätig sind und wie sich das auf ihre Gesundheit und ihre Lebenszufriedenheit auswirkt», sagt Conny Wunsch, Professorin für Arbeitsökonomie an der Uni Basel. Sie sieht hinter diesem Phänomen keine wirtschaftliche Notwendigkeit und glaubt, dass es sich eher um ein selbstgewähltes Lebensmodell handelt.

Ein Lebensmodell, das sich ohne mobile Datenträger und die damit verbundene Möglichkeit der dauernden Vernetzung nicht entwickelt hätte. Nur so ist es möglich, dass wir jederzeit auf den multiplen Bühnen der Anwesenheit parallel präsent sind. Wir kommunizieren mehr über die Cloud (Skype, E-Mail, soziale Netzwerke, virtuelle Datenspeicher) als direkt mit Menschen. Multitasking ist das oberste Gebot. Ganz unabhängig davon, wo man arbeitet, öffnen wir pro Tag durchschnittlich 40 verschiedene Websites, wechseln bis zu 36-mal pro Stunde zwischen den verschiedenen Programmen und konsumieren mehr als dreimal so viel Information wie noch vor 30 Jahren.

Posten, posen, liken und wirken

Für die Arbeit wird dank Smartphones & Co. oft nur noch ein Dach über dem Kopf, ein Wifi-Netz, Mail- und Handy-Empfang benötigt. Daneben betreiben wir weitere Überstunden für das Ich, um uns zu optimieren und uns im Do-it-yourself-Kapitalismus besser verkaufen zu können. Posen und posten, teilen, liken, tun und wirken – das sind die Maximen der Erwartungsgesellschaft, online wie offline. Denn die Unterscheidung zwischen on und off ist längst irrelevant geworden. Mit einem Smartphone in der Tasche sind wir sowieso immer on oder zumindest niemals ganz off.
Ob es sich bei der Generation Slash um eine zufriedene Generation handle, sei schwierig zu beantworten, sagt Conny Wunsch. «Die wenigen Studien zu den Folgen von Mehrfacherwerbstätigkeit geben bisher keine systematischen Hinweise auf negative Effekte auf die Gesundheit und die Lebenszufriedenheit.» Der grosse Leistungsdruck, immer Neues und Anderes zu machen und einzigartig zu sein, berge jedoch die Gefahr der Erschöpfung. Und er kann zum Griff zu Mitteln verführen, die helfen können, die Müdigkeit vorübergehend nicht zu spüren.

Und dann? Wie geht es dann weiter?

«Auf das ewige Weiter und den grossen Erwartungsdruck, den ich auch an mich selber stelle, würde ich manchmal gerne verzichten», sagt Brigida Brunetti und hat dabei Begriffe wie Weiterentwicklung, Weiterbildung, Weiterempfehlung, Weiterführung, Weitervermittlung oder Weiterverarbeitung im Kopf. «Denn was, wenn wir eines Tages nicht mehr besser werden, sondern bloss noch anders?», meint die 36-Jährige nachdenklich. Und doch machen alle weiter mit dem, was sie tun, um glücklich zu sein – und weil es halt auch Spass macht.

Die Generation Slash ist eine reflektierende und hinterfragende Generation, auch wenn sie die Frage «Was machst du eigentlich beruflich?» nur ungern hört. Was soll man sagen? Alle Jobs aufzählen und erklären, dass man immer irgendwie alles und niemals nichts ist? Dass eine Festanstellung bis zur Pensionierung auf keinen Fall infrage kommt?

Vielleicht aber zeigt die oft gestellte Frage nach dem Beruf auch wahres Interesse. Und dann sagen Patricia, Marco, Simone, Klaus, Brigida, Max, Rahel und Cynthia am liebsten: «Was mir gefällt.»


Erfahren Sie mehr über die Multitasker der Generation Flash in den Video-Porträts in unserem Online-Dossier.

Nächster Artikel