Die Kindheit, ein glitzernder Scherbenhaufen

Vier Schauspieler machen sich auf die Suche nach ihren Ursprüngen – und finden Vieles, aber keine Unschuld: Marcel Schwalds Theaterperformance «Enfants terribles» wirft bei der Basler Premiere in der Kaserne einen erfrischend ungeschönten Blick auf die Kindheit.

Zum Schreien: Julia und Marko versuchen, ihrem Kindheits-Ich Gehör zu verschaffen. (Bild: Donata Ettlin)

Vier Schauspieler machen sich auf die Suche nach ihren Ursprüngen – und finden Vieles, aber keine Unschuld: Marcel Schwalds Theaterperformance «Enfants terribles» wirft in der Kaserne einen erfrischend ungeschönten Blick auf die Kindheit.

Irgendwann muss irgendetwas kaputt gegangen sein. Genauso wie das Tablett mit dem Geschirr der Eltern in einem unbedachten Moment des Übermuts zu lauter Scherben zerbricht, die der «Schuldige» (Daniel Hinojo als sein junges Alter Ego) verzweifelt-vergeblich mit dem Staubsauger einzufangen versucht, so tastet er sich mit seinen drei Mitstreitern in «Enfants terribles» an die Bruchstücke der eigenen Anfänge zurück.

Anfänge, nicht Ursprünge. Denn in der Theaterperformance des Basler Regisseurs Marcel Schwald, der mittlerweile als Hausautor am KonzertTheater Bern tätig ist und dessen Stück nach der Uraufführung in Zürich im April gestern Freitag in der Kaserne Premiere feierte, entpuppt sich auch der Unschuldsmythos der Kindheit zunehmend als brüchig. «Nur als Kind ist man ganz – und vielleicht wieder, wenn man ganz alt ist», proklamiert Schauspielerin Susanne Abelein zwar zu Beginn.

Zu Staub zertrampelter Zwieback

Doch je tiefer die vier Protagonisten in die eigene Vergangenheit eintauchen, desto mehr tauchen anstelle eines nostalgischen Rückblicks beunruhigende Fetzen frühkindlicher Verletzungen, Geschichten über das Ausgestossen- und Ausgelachtwerden, über Hackordnung und Grausamkeit, versehentliche und bewusst zugefügte Wunden auf. Boden der Szenerie bildet dabei ein sternförmiges Feld aus Zwieback (Bühne: Manuel Gerst), worauf sich Julia, Susanne, Daniel und Marko in einer schier endlosen Vorstellungsrunde immer lauter mit dem Eigennamen zu behaupten versuchen, und das Publikum dabei auch direkt ins Geschehen miteinbeziehen.

Zunehmend wird der Zwieback im Verlauf des Stücks zu Staub zertrampelt, während sich die eigene Reflexion und Interpretation der erzählten und nachgespielten, biographischen Geschehnisse mit dem spielerischen Versuch der eigenen Wieder-Kind-Werdung vermischen: Hier treffen Modelle des gegenwärtigen Kindheitsdiskurs auf unterschiedliche Entwürfe, die aus dem literarischen Kanon von Cocteau (die titelgebenden «Enfants terribles») und William Golding («Herr der Fliegen»), Maurice Sendak («Wo die wilden Kerle wohnen») und Tomi Ungerer («Die drei Räuber»), J. M. Barrie («Peter Pan») und Lewis Carroll («Alice im Wunderland») stammen könnten – und damit die Widersprüchlichkeit und den Facettenreichtum der ersten Lebensjahre offenbaren.

Das Paradies, zum Greifen nah

Noch in den glücklichsten Momenten, wo das kindliche Paradies zum Greifen nah scheint, etwa beim Nachspielen von Enid Blytons kultiger «Fünf Freunde»-Serie, trüben den Darstellern plötzlich auffallend fragwürdige Geschlechternormen und -rollen das Vergnügen. Und just in dem Moment, wo die Ausgelassenheit überhand nimmt, stürzt das Quartett einen imaginären Wasserfall hinunter, der das Boot kentern – und sie voller Wut und Verzweiflung über die fehlende Fürsorge der abwesenden Erwachsenenwelt zurück lässt.

Die fragile, ambivalente Schönheit des süssen Vogels Jugend zeigt sich zum Schluss noch einmal symbolisch im berührenden Fabeltiertanz von Marko Milic, welcher Stummheit und Unverständnis zwischen den Generationen auf ungewohnte Weise zu überschreiten versucht.

Der Weg zurück bleibt verschlossen

Auch wenn die Straffung gewisser allzu lang und qualitativ unterschiedlich geratener Szenen «Enfants terribles» nicht geschadet hätte: Schwalds Versuchsanordnung entwirft einen erfrischend ungeschönten, differenzierten Blick auf die gängige Kindheits-Vorstellung. Die unmittelbare Abfolge oder gar Gleichzeitigkeit von Lust und Frust, Freud und Leid, macht das Stück unterhaltsam und lebendig, die dabei aufgeworfenen, grundsätzlichen Fragen werden klug ins Geschehen eingewoben.

Dass der Theaterperformance trotzdem eine gewisse Dichte und Geschlossenheit, Abrundung und logische Abfolge fehlt, mag durchaus gewollt sein: Um wieder ganz zu sein müsste man ja laut Schwald ganz weit zurück gehen können – doch dieser Weg bleibt einem wiederum grundsätzlich verschlossen. Nach «Enfants terribles» bleibt der Verdacht bestehen, dass dies möglicherweise auch besser so ist.

«Enfants terribles», Reithalle Kaserne Basel. Weitere Vorstellungen: 11.05., 13.05., 14.05., jeweils 20 Uhr, (So) 12.05., 19 Uhr.

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