«Die Kirche ist fragwürdig – und das nicht nur in einem guten Sinn»

Die Basler Münsterpfarrerin Caroline Schröder-Field über die Krise der christlichen Kirche, den Vormarsch des Islams und ihre preisgekrönten Predigten.

Caroline Schröder-Field: «Bestimmte Errungenschaften, die wir uns im Lauf der Jahrhunderte erkämpft haben, würde ich schon gerne bewahrt wissen.» (Bild: Alexander Preobrajenski)

Die Basler Münsterpfarrerin Caroline Schröder-Field über die Krise der christlichen Kirche, den Vormarsch des Islams und ihre preisgekrönten Predigten.

Caroline Schröder-Field, seit bald drei Jahren Basler Münsterpfarrerin und Gewinnerin des ersten Schweizer Predigtpreises (2014), will das Interview nicht im schmucklosen Gebäude der Kirchenverwaltung neben dem Münster führen. «Wie wärs, wenn wir zuerst auf den Turm steigen?», überrascht uns die 48-Jährige. Einen Moment später jagt uns die modisch gekleidete Theologin behende die steile und schmale Treppe des Martinsturms hoch.

Oben angekommen, 65 Meter über dem Boden, weitet sich der Blick über die Stadt und die Rheinebene. Schröder-Field posiert für den Fotografen. Dann möchte sie weiter – in den benachbarten Georgsturm. Wir steigen die Treppen runter, wieder hoch – und setzen uns im Turmzimmer zum Gespräch an den Tisch.

Sie haben uns für das Gespräch hier hoch nach oben in den Kirchturm geführt. Weshalb?

Es war eine ganz spontane Idee. Ich finde, das Münster spricht eine sehr deutliche Sprache und schafft Verständigung. Ich steige aber auch gerne alleine die beiden Türme hoch.

Tun Sie das regelmässig?

Seit drei Wochen steige ich jeden Morgen hier rauf und beginne so meinen Tag.

Warum denn das?

Ursprünglich aus sportlichen Gründen, ich bin ja Schreibtisch- und Kanzeltäterin. Es ist aber zunehmend zur geistlichen Übung geworden: Das Münster kann man nicht betreten, ohne dass es einem etwas sagt.

Und was sagt es Ihnen?

Wenn ich oben auf dem Martinsturm angekommen bin und über die Dächer der Häuser sehe, dann sagt mir das Münster: Es gibt noch eine Welt ausserhalb meiner Agenda. Dieser Weitblick, gerade am frühen Morgen, tut gut. Apropos Agenda: Es ist nicht ganz einfach, sich die Arbeit einer Pfarrerin vorzustellen. Tägliche Turmspaziergänge lassen einen gemächlichen Alltag vermuten. So, als habe man sonst nichts zu tun.

«Wenn man den Predigtpreis als Marketingaktion bezeichnet, stellen sich bei mir Bauchschmerzen ein.»

Wie sieht denn Ihr Alltag aus?

Ich kümmere mich um Menschen, die in ihrem Leben Veränderungen durchmachen und diese neuen Situationen gestalten müssen: Sie heiraten, lassen ihr Kind taufen, müssen einen Angehörigen beerdigen. Diese seelsorgerischen Aufgaben machen einen erheblichen Teil der Arbeit aus. Dazu kommt der kirchliche Unterricht für Jugendliche, die häufig keine starke Beziehung mehr zur Kirche haben. Und das Münster als gefragtes Baudenkmal erweitert den normalen Aufgabenkatalog einer Pfarrerin noch erheblich. Hinzu kommen Verwaltungsaufgaben, Sitzungen, Personalführung. Es kommen vielfältige Aufgaben zusammen, entsprechend voll ist auch meine Agenda.

Dann halten Sie ja auch noch Predigten und haben Anfang September sogar den Schweizer Predigtpreis gewonnen. Was machen Sie besser als andere?

Es gibt zahlreiche gute Prediger und Predigerinnen, ich bin da nicht alleine auf weiter Flur. Ich mache es einfach sehr, sehr gerne. Es ist für mich keine Last. Und dann habe ich in verschiedenen Kirchen meinen Dienst getan. Vielleicht schlägt sich auch das nieder.

Predigten im O-Ton

Caroline Schröder-Field tritt regelmässig in der «RadioPredigt» auf SRF 2 Kultur auf. Hier eine kleine Predigt-Auswahl:

Der Predigtpreis ist zum ersten Mal vergeben worden. Braucht es das überhaupt?

Da sind die Auffassungen durchaus verschieden. Es entsteht der Eindruck, dass man den Wettbewerb jetzt auch noch in der Kirche einführt. Auf der anderen Seite schafft er auch Aufmerksamkeit, das finde ich gar nicht schlecht. Und am Ende steht ja auch nicht der Preis, sondern ein Buch mit gesammelten Predigten.

Eine gelungene Marketingaktion also?

Ich weiss nicht, ob diese Fremdbeschreibung aus dem Wirtschaftsbereich für uns gelten sollte. Wenn man den Predigtpreis als «Marketingaktion» bezeichnet, stellen sich bei mir ganz ähnliche Bauchschmerzen ein, wie sie andere Leute vielleicht haben, wenn sie «Predigtpreis» hören. Und wenn man die Kirche mit Marketing in Verbindung bringt, was ist denn unser «Produkt»?

Das würden wir gerne von Ihnen hören.

Im weitesten Sinne gute Seelsorge. Ich stehe mit meinem Amt dafür ein, dass Gott in unsere Wirklichkeit hineinspricht…

(Die Glocken läutet zur halben Stunde.)

Hoppla, vielleicht habe ich da gerade höheren Widerspruch ausgelöst.

Vielleicht hätte die Uhr ohnehin geschlagen.

Danke. So kann man es auch sehen. Wenn Sie mich also fragen, was unser Produkt ist, dann würde ich sagen: gute Seelsorge. Und da gehört die Predigt dazu.

«Dass Predigt nicht Moralpredigt heisst, das ist mein Herzensanliegen.»

Was ist «gute Seelsorge»?

Man muss aufmerksam und offen sein. Man muss die Menschen kennenlernen wollen, und das immer in dem Rahmen, in dem es von ihnen gewünscht wird. Die seelsorgerischen Aufgaben sind oft mit einem Ziel verbunden. Dieses möchte ich so erfüllen, dass sich die Leute gestärkt fühlen. Da die Kirche Auftraggeberin ist, muss ich mich auch immer wieder fragen, wie ich dafür einstehen kann, dass Gott in die Wirklichkeit dieser Menschen hineinspricht. Das ist für mich die zentrale Frage.

Sie haben gesagt, dass Sie Menschen begleiten, die Probleme haben. Was macht den Leuten am meisten Sorgen?

Das ist sehr verschieden, ich kann Ihnen keinen bestimmten Trend nennen. Ich kann nur sagen, diese Frau kommt immer wieder, weil sie sehr einsam ist. Oder dieses Paar kommt zu mir, weil es alleine nicht weiterkommt – und vielleicht auch, weil ich nichts koste. Auch das kann ein Grund sein. Das sind aber immer nur Einzelbeispiele.

Seit einigen Jahren nimmt die Zahl der Kirchgänger markant ab. Wo liegt das Problem der Kirche?

Die Kirche ist fragwürdig – und das nicht immer nur in einem guten Sinne. Teilweise zu Recht, denn sie hat sich historisch in viel Schuld verwickelt. Anderseits gibt man der Kirche in der Öffentlichkeit wenig Chancen. «Predigt» zum Beispiel ist in der Alltagssprache ein eher negativ besetztes Wort. Dass Predigt nicht Moralpredigt heisst, das ist mein Herzensanliegen. Wonach ich in meinem Studium zu fragen gelernt habe und was mir noch immer wichtig ist: Warum sind wir Menschen eigentlich da? Und können wir diese Frage beantworten, ohne uns auf Gott zu beziehen? Manchmal frage ich mich, wer das überhaupt noch wissen möchte.

«Es gibt sicher einen gewissen Konservativismus am Münster – den gab es aber auch in Winterthur und im Rheinland, wo ich herkomme.»

Die Freikirchen haben grossen Zulauf von jungen Leuten. Was finden sie dort, das sie bei Ihnen nicht finden?

Ich glaube, der Erfolg basiert darauf, dass viele Freikirchen jene Klarheit und Eindeutigkeit wagen, nach denen sich viele Menschen immer mehr sehnen. Sie wollen klare Anweisungen erhalten.

Und diese klare Eindeutigkeit können Sie nicht geben?

Die will ich nicht geben. Das hat für mich etwas mit der Gewissensfreiheit zu tun. Und mit meiner festen Überzeugung, dass Gott mit allen Menschen unterwegs ist, und das auf sehr unterschiedliche Weise. Deshalb muss das, was ich lebe, nicht unbedingt auch das Richtige für Sie sein.

Was können Sie den klaren Weisungen der Freikirchen entgegenhalten?

Ich beschränke mich nicht auf die Moral. Das zeigt zum Beispiel das bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Lukas-Evangelium. Die Pointe ist nicht einfach «Liebe deinen Nächsten». Die Pointe ist, dass mir der Fremde zu dem Ort wird, an dem ich Gott begegne. Das ist nicht Moral. Das ist Dogmatik im besten, ursprünglichen Sinne des Wortes.

Sie sprechen und wirken nicht wie eine klassische Pfarrerin…

Schön…

Sorgte das für Vorbehalte Ihnen gegenüber, als Sie hier in Basel anfingen?

Es hat zu Beginn Vorbehalte gegeben, weil ich Deutsche und Frau bin. Es gibt sicher auch einen gewissen Konservativismus am Münster – den gab es aber auch in Winterthur und im Rheinland, wo ich herkomme. Heute spüre ich aber wenige Vorbehalte mehr. Und dass Pfarrerinnen und Pfarrer heute anders sind als ihr Image, das ist ja nur gut!

«Eindeutigkeit will ich nicht liefern, aber Einfachheit im Sinne von Verständlichkeit.»

Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem Beruf gekommen?

Zunächst beschritt ich den akademischen Weg. In der Theologie konnte ich meine Liebe zur Philosophie und zu den alten Sprachen pflegen. Irgendwann während meines Studiums merkte ich, dass ich nicht noch mehr Bücher produzieren, sondern mich mit den Menschen beschäftigen will. Ich vermisste an der Uni auch die Einfachheit… Und jetzt komme ich nochmals zurück zu Ihrer vorherigen Frage: Eindeutigkeit will ich nicht liefern, aber Einfachheit im Sinne von Verständlichkeit, das will ich pflegen und muss ich auch immer wieder neu lernen. Das merke ich in jedem Gespräch mit Leuten, die nicht regelmässig in die Kirche kommen.

Wie merken Sie, dass Ihre Worte ankommen? Die Leute klatschen ja nicht nach einer Predigt.

Ein Kriterium ist, ob die Leute wiederkommen. Ich stelle heute fest, die Münster-Gemeinde ist nicht kleiner geworden. Wenn ich dann auch noch sehe, dass auch die gelegentlichen Kirchgänger ansprechbar sind und sich für andere Angebote begeistern lassen, ist das ein Erfolg für mich.

Pflegen Sie Beziehungen zu anderen Religionsgemeinschaften? Gibt es zum Beispiel Kontakt zur jüdischen Gemeinschaft?

Ja, diese pflegt mein Kollege Lukas Kundert in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften.

Die islamische Bevölkerung in Basel wächst. Befürchten Sie, dass die christliche Kirche im Wettbewerb der Religionen an Boden verlieren könnte?

Ich hoffe, dass sich die reformierte Kirche in Basel und in der Schweiz halten und ein Profil entwickeln kann, das nicht nur der Kirche selber, sondern allen Menschen dient. Meine persönliche Frage lautet: Welche Freiheiten könnten uns verloren gehen, wenn die Bevölkerungsentwicklung in diesem Tempo weitergeht?

«Ich glaube, im Islam gilt ein Rechtsverständnis, das mit dem unseren in Konflikt geraten könnte.»

Wie meinen Sie das?

Ich glaube, im Islam gilt ein Rechtsverständnis, das mit dem unseren in Konflikt geraten könnte. Bestimmte Errungenschaften, die wir uns im Lauf der Jahrhunderte erkämpft haben, würde ich schon gerne bewahrt wissen.

Versuchen Sie, Brücken zu schlagen zu islamischen Religionsgemeinschaften?

Ich werde zum Beispiel mit meiner Gemeinde ein Buch von Rafik Schami lesen: ein wunderbarer Geschichtenerzähler, der als Christ in Syrien aufgewachsen ist und heute in Deutschland lebt. In seinen Geschichten spiegelt sich die Pluralität der Kulturen, die derzeit in Nahost so gewalttätig aufeinanderprallen, auf eine ideale Weise.

Es ist historisch betrachtet nicht das erste Mal, dass eine Religion exzessive Züge annimmt. Wie erklären Sie sich die heutige Entwicklung?

Interessant ist, dass der Islam, das Judentum und das Christentum «Buchreligionen» sind. Unser Glaube beruft sich auf eine «Heilige Schrift». Wir haben da also sehr viele Gemeinsamkeiten. Es würde mich interessieren, wie viel von unserem Potenzial – im Guten wie im Schlechten – von diesem Umstand geprägt ist, dass sich unsere drei Religionen je auf eine Schrift stützen.

«Wenn plötzlich von der Politik «christliche Werte» beschworen werden, bin ich mir nicht sicher, ob diese Werte jene Freiheit beinhalten, für die ich mich einsetze.»

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Politiker hören, die sich auf «christliche Werte» berufen, um sich gegen den Vormarsch des Islams zu verteidigen?

Das Wort «verteidigen» finde ich schon mal schlimm. Ich denke, dass es gut ist, dass wir uns auf unsere Tradition besinnen. Aber wenn nun plötzlich von der Politik «christliche Werte» beschworen werden, bin ich mir nicht sicher, ob diese Werte jene Freiheit beinhalten, für die ich mich einsetze.

Wenn Sie die Ereignisse in Syrien und im Irak betrachten: Was kann die christliche Kirche diesem Grauen entgegenstellen?

Wir können Solidarität mit den dort lebenden Christinnen und Christen bekunden. Wir können auch Einspruch erheben gegen die Gewalttaten, die dort passieren. Und wir können das Gespräch mit Muslimen suchen, die uns ihr Rechtsverständnis erklären, und mit ihnen auch Möglichkeiten eines Staatsverständnisses diskutieren, welches religiöse und kulturelle Pluralität erlaubt.

Haben Sie denn den Eindruck, dass sich die Zahl islamischer Länder mehrt, die nur noch mit Scharia funktionieren?

Nein, aber ich glaube, dass sich derzeit in der islamischen Welt eine Art Rechtsruck ereignet. Wichtig scheint mir aber, dass man nicht von dem Islam spricht. Es gibt da ganz viele Schattierungen. Und nochmals: Es gibt sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Islam und dem Christentum, weil beide Religionen sich auf die Auslegung einer «Heiligen Schrift» stützen.

Sie leben jetzt drei Jahre in Basel. Wie gut fühlen Sie sich integriert?

Stückchenweise komme ich immer ein bisschen mehr an. Ich lebe ja auch beim Münsterplatz, im Herzen von Basel, und ich erlerne seit einem Jahr das Piccolospielen. Aber ich muss ehrlich sagen, ein Grossteil meiner Zeit besteht aus Arbeit, da bleibt nebenbei nicht sehr viel Freiraum.

Sie haben einmal gesagt, sie würden gerne einen Roman schreiben.

Wenn ich wüsste wie, gerne!

Was für eine Art Roman würde es? Sagen Sie jetzt bitte, ein Krimi…

(lacht) Ein Krimi über die Kirche, «Mord im Turmzimmer» vielleicht! Aber bestimmt kein Fantasy-Roman, aus dem Alter bin ich raus.

Caroline Schröder-Field, 48, ist in Bonn aufgewachsen und hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Theologie studiert. Seit drei Jahren ist sie Basler Münster- und Radiopfarrerin bei SRF. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin der Evangelisch-Methodistischen Kirche in Winterthur. Sie ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Die ausgezeichnete Predigt «Elia in der Wüste» finden Sie auf der Rückseite dieses Artikels.

Nächster Artikel