Die Kunst als Spiel und die Besucher als Mitkünstler

In der Kunstgeschichte ist ziemlich trocken von «Variations-» oder «Partizipationsobjekten» die Rede. Das Museum Tinguely hat seiner Ausstellung mit Kunstwerken, die sich in Form und Aussehen variieren lassen, den anziehenderen Namen «Spielojekte» verliehen.

Würfelspiel in Jeppe Heins «Intervention Impact» (Bild: Dominique Spirgi)

In der Kunstgeschichte ist ziemlich trocken von «Variations-» oder «Partizipationsobjekten» die Rede. Das Museum Tinguely hat seiner Ausstellung mit Kunstwerken, die sich in Form und Aussehen varriieren lassen, den anziehenderen Namen «Spielojekte» verliehen. Auch wenn sich bei vielen Objekten nur noch der Konservator als Spieler betätigen darf, ist es eine Ausstellung, die Spass macht und zur kreativen Mitarbeit einlädt.

Sie gehören zu den unverwechselbaren Merkmalen des Museums Tinguely: die roten Knöpfe am Boden, mit denen man die Maschinenkunstwerke des Hauskünstlers in Bewegung versetzen kann, sie gewissermassen zu spielerischen Objekten macht. Diese Objekte und die (allerdings beschränkte) Möglichkeit zur Interaktion sorgen dafür, dass sich das Museum in der Paul Sacher-Anlage 1 einer niedrigen Zugangsschwelle erfreuen kann.

Das Bestreben nach Niederschwelligkeit dürfte auch ein Beweggrund für die Künstlerinnen und Künstler gewesen sein, die rund um die 1960er-Jahre und zum Teil bereits Jahre früher Objekte schufen, die sich auf mehr oder weniger spielerische Art verändern lassen und somit auch bewusst die erhabene Aura des Originals in Frage stellten. Und zwar nicht auf Knopfdruck, sondern durch konkretes Handanlegen der Betrachterinnen und Betrachter: Zwei- oder dreidimensionale Puzzleobjekte, verschieb- oder drehbare Bilder und Reliefs, abstrakte Steckbilder, Plastiken mit Gelenken oder ganze Räume, die sich mit- oder umgestalten lassen.

Spielen lassen

«Spielobjekte – Die Kunst der Möglichkeiten» ist ein Versprechen, welches das Museum Tinguely aber teils nur bis zu einem gewissen Punkt erfüllen kann. Aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Denn viele der gut 100 Exponate, vor allem die etwas älteren Werke, würden die Ausstellung nicht überleben, wenn man die Besucherinnen und Besucher wirklich frei Hand anlegen lassen würde. Zum Beispiel Hans Ernis «Halbkugel im Spiegel» (1934) – jawohl von diesem Hans Erni, der vor allem mit seinen Plakaten bekannt wurde. So ist das filigrane Objekt mit drehbarer Scheibe und Halbkugel in einer Glasvitrine vor Zugriffen geschützt.

Auch bei vielen anderen Objekten, etwa bei Carmelo Arden Quins «Coplanal» (1945), weist eine durchgestrichene Hand darauf hin, dass man die Finger von diesem Objekt lassen soll. Zumindest als Besucherin oder Besucher. Denn absolut unberührbar sind nur einige wenige Objekte aus der Pionierzeit der Variations- oder Partizipationskunst. Bei anderen Werken kann man sich auf Führungen demonstrieren lassen, wie sie sich durch Bewegung, Faltung, oder Umstecken verändern lassen. Und Führungen gibt es viele während der Ausstellungsdauer bis 11. Mai. Vier pro Tag, wie Museumsdirektor Roland Wetzel an der Medienorientierung sagte.

Schweiz und Lateinamerika

Der Fokus der Ausstellung liegt auf den 1950er- bis 1960-Jahren. Hierbei fällt auf, dass Künstlerinnen und Künstler aus der Schweiz verhältnismässig stark vertreten sind. Das liege nicht daran, dass man als Schweizer Museum dem eigenen Land besonders viel Gewicht verliehen hätte, beteuerte der Berliner Co-Kurator Frederik Schikowski, der seine Dissertation über diese variablen Objekte verfasst hat. «Die deutschsprachige Schweiz spielt hier tatsächlich eine Vorreiterrolle», sagte er. Neben Hans Erni sind auch Namen wie Mary Viera, Paul Talmann, Karl Gerstner, Rolf Rappaz und Dieter Roth zu finden, womit man den Fokus auch noch ein wenig auf Basel einengen kann.

Die in der Ausstellung vertretenen Künstlerinnen und Künstler stammen aber aus der gesamten westlich orientierten Welt. Mehrere davon zum Beispiel aus Italien. Und hier verlässt man als Besucherin oder Besucher der Ausstellung den zurückhaltenden Teil der Ausstellung. So ist der Titel von Gabriele Devecchis Werk, «Scultura da prendere a calci» (1959/2004), durchaus als Aufforderung zu verstehen – als Aufforderung, die mit einer elastischen Schnur lose auf einer runden Aluminiumplatte befestigten acht Quaderelemente aus Schaumstoff mit einem Fusstritt zu bearbeiten.

Grosser Spielraum im Untergeschoss

Dieses Werk im Erdgeschoss, wo Arbeiten, die sich an den Konstruktivismus oder die Konkrete Kunst anlehnen (bzw. diese persiflieren) dominieren, leitet gewissermassen in den ganz und gar spielerischen Part der Ausstellung im Untergeschoss über. Dort gelangt man als erstes zur Installation «Intervention Impact» von Jeppe Hein (2004). Diese besteht aus 300 Pappwürfeln mit je einer eingestülpten Ecke, die sich von den Besucherinnen und Besuchern zu vielfältigen Skulpturen zusammenstellen bzw. stapeln lassen. Dass die Aufforderung zum Kunstspiel sehr ansteckend ist, zeigte sich bereits an der Medienführung.

Spielerischer Höhepunkt der Ausstellung ist aber «The obliteration room» von Yayoi Kusama, eine weiträumige Loft mit schneeweissen Wänden, Boden, Möbeln, Lampen, Pflanzen, Geschirr und einem ebenso weissen Klavier. Dies war so, bis der Medientross den Raum betrat. Denn am Eingang bekommt man einen Bogen mit kreisförmigen farbigen Aufklebern ausgehändigt. Niemand konnte, niemand wird widerstehen können, dem klinisch weissen Raum (der er zur Eröffnung der Ausstellung nun schon nicht mehr ganz sein wird) zu enormer Buntheit zu verhelfen und damit zu einem Kunstwerk werden zu lassen, das Hunderte von Mitautorinnen und -autoren hat.

Museum Tinguely
«Spielobjekte – Die Kunst der Möglichkeiten»
19. Februar bis 11. Mai 2014
Im Rahmen der Ausstellung finden über 300 öffentliche Führungen statt.

 Als Sideline zur Ausstellung: Tinguelys Ballspielmaschine «Rotozaza No. 1» aus dem Musée d’art contemporain, Marseille

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