880 Milliarden – so viele Bilder sollen in diesem Jahr geschossen werden. Smartphones verbreiten sich und Plattformen wie Instagram und Facebook wachsen explosionsartig. Aber heute streifen wir mit jedem Bild auch ein Stück Erinnerung ab.
Könnten Daten verblassen, wäre ich letzte Woche auf einen Berg farbloser Bilder gestossen. Aber wir leben in der Zukunft. Die Aufnahmen aus dem letzten Jahrzehnt, die ich beim Dürchstöbern einer alten Festplatte fand, hatten sich äusserlich nicht verändert.
Ich fand sie verlassen in Unterordnern, die lediglich Jahreszahlen wie 2002 oder 2006 trugen. Rund 500 Bilder aus einer Zeit, die ich so gegenwärtig, wie mir die Fotografien entgegen schlugen, nicht mehr in Erinnerung hatte. Schnappschüsse vorwiegend, Bilder, wie sie heute täglich zu tausenden auf soziale Plattformen geladen werden. Das alltägliche Leben, ich selbst mittendrin.
Die meisten Szenen scheinen meinem Gedächtnis auf eine Weise entrissen, dass es mir vorkommt, sie stammten aus dem Leben eines Fremden. Teile meiner eigenen Tage, Erlebnisse, die in diesem Bildarchiv darauf warteten, wieder entdeckt zu werden. Die Bilder kamen mir befremdlich vor, unnah. Nie hätte ich, der ich vollends mit der «digitalen Revolution» aufgewachsen bin, gedacht, auf digitale Erinnerungen könne so viel Staub fallen, wie auf eine alte Kartonschachtel in einem leerstehenden Haus.
(Bild: Livio Marc Stöckli)
Die Kamera verdrängt das Gehirn
Der amerikanische Pionier der Landschaftsfotografie, Ansel Adams, sagte einst: «An einem Bild sind immer zwei Leute beteiligt: der Fotograf und der Betrachter.» Wann, in all den Jahren digitaler Fotografie, war mir nicht bewusst, dass Aufnahmen über die Zeit ihre Bedeutung ändern? Und nicht nur für das Publikum, sondern auch für den Fotografen selbst. Dass ich aber nicht mehr das sah, was ich im Moment der Aufnahme zu sehen glaubte, war nicht das tragische. Ich konnte mich an die meisten Bilder schlicht nicht mehr erinnern. Weder an die Zeit, noch an den Ort.
Dieses Syndrom, das sich in der Gesellschaft entfaltet, nennt sich «photo-taking impairment effect», 2013 beobachtet in einer Studie der Universität von Fairfield (Connecticut, USA). Es beschreibt die Dissoziation im Moment der Aufnahme. Studenten wurden gebeten, während einer 30-minütigen Museumstour die Hälfte der Objekte zu fotografieren, und die andere Hälfte einfach nur zu betrachten. Am Tag danach war die Erinnerung an die fotografierten Objekte beinahe verblasst. Die nur Beobachteten hingegen schwammen oben auf, klar und detailliert.
Linda Henkel, leitende Psychologin der Studie, spricht von einem «outsourcing of memory». Aber mit der Auslagerung der Erinnerung, mit der Dislokation durch die Digitalisierung dieser Erlebnisse, steigt die Gefahr, in den wachsenden Datenmengen den dünnen Erinnerungsfaden, an dem wir diese Aufnahmen in die Tiefen der Speichermedien hinablassen, vollends zu verlieren.
Wie das Team der Psychologin Linda Henkel in ihrer Studie zeigt, verlieren wir durch dieses Abtreten eines Augenblicks, durch den Versuch die ganze Umwelt immerzu festzuhalten, den Augenblick als ganzes. Nicht weil er nicht stattgefunden hat, sondern weil wir ihn nicht als Ich erlebten, sondern als Mensch im Orbit sozialer Medien, mit tausend Betrachtern im Rücken, die uns in der Illusion über die Schulter staunen. Und wohin gehen diese Erinnerungen, wenn sie schliesslich nur auf endlosen Harddisks in Unordnung vor sich hin vegetieren, längst jenseits unseres Interesses?
Die Auswirkungen der Zunahme von Fotografie bestehen nicht in deren Zerstörung – diese lebt nach über 150 Jahren noch, trotz all der «Revolutionen», durch die sie sich gekämpft hat – sondern in der Dislokation des Individuums. Wir finden die eigenen Meilensteine, die wir auf unserer Landkarte der Erinnerung fotografisch platziert haben, nicht mehr. Vielleicht, weil wir nicht mehr mit unseren Augen schauen und fotografieren, sondern mit denen der Konkurrenten unserer Leben.