Da stolziert er, mit hohlem Kreuz und geschwellter Brust, eine kecke Feder am schwarzen Hut: Benito Mussolini in seiner ganzen Aufgeblasenheit. Nur wird der Diktator verkörpert von einem jungen Schlacks namens Steppke, während sein Freund Stups sorgenvoll den Regenschirm aufspannt, wohl wissend um die feuchte Aussprache des Reden schwingenden Duce.
Die Zeichnung ist nicht grösser als eine A4-Seite, und doch betrachtet man sie mit angehaltenem Atem. Georges Remi (1907–1983) selbst hat hier Hand angelegt, weltbekannt unter seinem Künstlernamen Hergé. Man sieht dem Papier zwar sein Alter an, aber die schwarzen Linien wirken verblüffend lebendig, frisch – und klar.
Hergé hat die Ligne claire geprägt, aber nicht erfunden.
«Die Abenteuer der Ligne claire – Der Fall Herr G & Co.» heisst die neue Ausstellung im Cartoonmuseum Basel, wo das Original zu bestaunen sein wird. Und selbst wenn Hergé aus Gründen des Urheberrechtes nur verklausuliert als «Herr G» im Untertitel der Schau auftritt, bleibt es nicht bei dieser einen Zeichnung: Dem Vater von Tintin ist ein ganzer Raum mit weiteren sechs Originalen, unter anderem «Tintin en Amérique», gewidmet.
Hergé hat die Ligne claire zwar perfektioniert, erfunden hat er sie aber nicht, wie Museumsleiterin Anette Gehrig erklärt. Die Kunst der klar konturierten Linie fängt lange vor Tintin an und reicht bis in die Gegenwart. Geformt wurde sie durch verschiedene Einflüsse: Vom Japonismus stammt der Mut zur Leere, vom Art déco der Geschmack an der Geometrie und von der Drucktechnik zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Streben nach Einfachheit.
Als Vorgänger der Ligne claire vertritt der von Hergé geschätzte US-Cartoonist George McManus mit seinem Zeitungsstrip über einen irischen Einwanderer («Bringing Up Father», 1913–1954) den amerikanischen Einfluss. Das bretonische Dienstmädchen «Bécassine» (1905–1950) des Franzosen Joseph Pinchon steht in der Ausstellung für die Tradition der Ligne claire in der alten Welt.
Ein Studio für Linientreue
Hergé erfand mithilfe der klaren Linie nicht nur seinen rasenden Reporter Tim (1929–1976), er legte damit auch die visuelle Sprache des klassischen Abenteuercomics fest: Es gibt keine Schatten, Bildvorder- und -hintergründe werden zeichnerisch gleichwertig behandelt. Die Figuren treten immer nach rechts, also in Leserichtung ab – nichts soll von der Verständlichkeit der Geschichte ablenken.
Dabei setzt die klare Linie als kürzeste erzählerische Verbindung zwischen einem Rätsel und dessen Auflösung enorm viel Vorarbeit voraus. Aus den unzähligen Strichen einer Vorskizze wird die eine, ideale Linie geformt, die durch ihre vermeintliche Leichtigkeit besticht. «Jeder Strich ist eine Eroberung», sagte Hergé, der in seinem Studio eine ganze Generation von Zeichnern auf seine Methode einschwor.
Zu Hergés ehemaligen Assistenten zählten Zeichner wie Jacques Martin («Alix»), Bob de Moor («Barelli») oder Albert Weinberg («Dan Cooper»). Der eigenständigste Zeichner aber, der sich im Streit von seinem Freund und Mentor trennte, war E. P. Jacobs, der in seiner Abenteuerserie «Blake und Mortimer» (1946–1971) den Realismus und die Detailtreue der klaren Linie auf die Spitze trieb.
Die neuen Wilden belebten die Ligne claire für ein erwachseneres Publikum.
Zu ihrem Namen kam die Ligne claire erst 1977: Der niederländische Zeichner Joost Swarte, der die Vernissage in Basel besuchen wird, hatte den Begriff für den Katalog einer Hergé-Ausstellung geprägt. Beeinflusst von amerikanischen Underground-Zeichnern wie Robert Crumb oder Art Spiegelman, bleibt Swarte seiner Linie bis heute treu: Seine surreal verrätselten Bilderwelten leben ebenso von der Ligne claire wie seine Entwürfe als Designer und Architekt.
In der Folge von Swartes Wortschöpfung kam es zu einer eigentlichen Renaissance des Zeichenstils. Nur waren die Geschichten in den 1980ern längst nicht mehr so aufgeräumt und dokumentarisch wie zur Blütezeit der Ligne claire 30 Jahre zuvor: Comickünstler wie Ted Benoït («Ray Banana»), Serge Clerc («Mord im Leuchtturm») oder Yves Chaland («Freddy Lombard») erforschten die halluzinative Qualität des strengen Strichs, der nicht mehr klar zwischen Fakt und Unfassbarem unterscheidet.
Der Retro-Look der Ligne claire mit ihrer Bauhaus-Architektur und den Film-noir-Verweisen lebte neu auf, zielte allerdings auf eine deutlich erwachsenere Leserschaft: Die Kurven der nostalgischen Limousinen bekamen Konkurrenz durch die Femme fatale.
Fortsetzung folgt
Die Schweiz darf bei dieser Schau nicht fehlen. Mit der Werbefigur Globi stellt das Basler Cartoonmuseum einen Schweizer Kinderbuchklassiker in die direkte Erbfolge der Ligne claire. Und zeitgleich mit den neuen Wilden griff Emmanuel Excoffier alias Exem in den 1980ern auf Hergé zurück, um in seiner Parodie «Zinzin» zum Teil derbe Spässe mit dem sonst so stubenreinen Personal von Tintin zu treiben. Auch die liebevolle Hommage an Hergé auf dem Plakat zur Ausstellung in Basel stammt von ihm.
So pfeilt die Ligne claire weiter Richtung Gegenwart, und noch immer sind ihre Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. Der Amerikaner Chris Ware («Jimmy Corrigan, the Smartest Kid on Earth», 2000) hat über Joost Swarte zur klaren Linie gefunden und zeichnet abstrakte Geschichten wie Schaltpläne zwischenmenschlicher Beziehungen.
Die aktuellste Zeichnerin der Ausstellung, Rutu Modan, wählt in ihrer neuen Graphic Novel hingegen einen versöhnlicheren Ansatz: Nicht ganz unpassend handelt «Das Erbe» von der Vereinbarkeit von Zukünftigem und Vergangenem.