Die Mutter Courage vom Häfelimärt

Ihr Engagement für die Bedürftigen und ihr loses Mundwerk machten das «Selmeli» zur lebenden Legende.

Stets zu einem schrägen Spruch bereit: Selma Ratti am 31. Oktober 1979 an ihrem «Hühner­futter»-Stand, den sie über Jahrzehnte während der Herbschtmäss auf dem Petersplatz betrieb. (Bild: Kurt Wyss)

Ihr Engagement für die Bedürftigen und ihr loses Mundwerk machten das «Selmeli» zur lebenden Legende.

Ihn, den ebenso unverwüstlichen wie grässlich grünen Orangenschäler, haben wir immer noch. Und sie, die uns die Plastik­dinger mit der ultimativen Überzeugungskraft einer erfahrenen Wärmedeckenverkäuferin gleich mehrfach aufschwatzte, haben wir ebenfalls noch. In ehrenvoller Erinnerung nämlich, denn ein Abstecher zu ihrem Herbschtmäss-Stand am Häfelimärt war Unterhaltung und Kaufzwang, Bewunderung und Kopfschütteln zugleich.

Selma Ratti, wie ganz Basel sie kannte – als spitzzüngiges Original und als Mensch von unermüdlicher Hilfsbereitschaft. Auch wenn sie sich aus ­Altersgründen inzwischen aus dem öffentlichen Leben zurückziehen musste, bleibt das «Selmeli» unvergessen.

Sie, die sich nie in ein Schema einordnen liess und in keine Schublade passen wollte, hatte eine klare Vorstellung davon, wie ihr Leben sinnvoll zu nutzen sei. In dem 2004 im Spalentor-Verlag erschienenen Büchlein «S wie Selmeli» wird sie dazu wie folgt zitiert: «Für andere Menschen da zu sein, das ist meine Vorstellung von Lebensqualität.» Umgesetzt auf die Jahrzehnte ihrer unglaublichen Schaffenskraft bedeutete dies die Adoption von vier Kindern sowie die Betreuung von mehr als 40 weiteren jungen Menschen, die sie bei sich aufnahm.

Unglaublich, wie viel Positives mit etwas Herz und Schneid ­erreicht werden kann.

1976 begann dann noch ­etwas anderes, das ­«Selmelis» einzigartigen Ruf bis weit in die südbadische Nachbarschaft trug: Gratisfahrten für bedürftige Jugendliche und ­Betagte ab Basel in den Europa-Park bei Rust, finanziert durch den Erlös aus an der Herbstmesse verkauftem Popcorn sowie durch weitere Spenden und Vergabungen, welche die Unermüdliche in ihrer ungeschliffenen Art zusammentrug, indem sie ungeniert auch die Besitzerfamilie Mack vom Europa-Park für ihre gute Sache einspannte.

Fortan öffneten sich auch die Tore der Freizeitanlage zum Nulltarif, bis im Juni 2012 insgesamt 600 Mal und für weit über 30 000 glückliche Reise­teilnehmer aus der Region. Noch einmal war «Selmeli» in Rust dabei und nahm die Verdiensturkunde persönlich entgegen.

Unglaublich, wie viel Positives allein mit Herz und Zivilcourage erreicht werden kann – notfalls auch ohne salbungsvolle Bittpredigten und ohne diplomatische Umgangsformen. Als Aktion «Frohe Herzen» wurde «Selmelis» Idee im Europa-Park sogar noch ausgebaut. Alles in allem durfte bereits weit über eine halbe Million Menschen unentgeltlich den Freizeitpark besuchen. Selma Ratti selbst ist schon seit 1996 als «Ehrenbürgerin» im Freizeitpark verewigt.

Und zur Jahrtausendwende wurde ihr zu Ehren im Walliser Dorf des Europaparks mit dem «Selmeli-Gässli» ein eigener Weg benannt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 25.10.13

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