Siemens war schon gross, aber Novartis – das hören die Griechen gerade jeden Tag – ist ein noch viel grösseres Ding. Natürlich geht es nicht um Umsatz und Marktanteil. Gemessen wird in Schmiergeldhöhe und Korruptionstiefe.
Stavros Kontonis, Justizminister der linksgerichteten Syriza, gibt den Ton vor. Bei der Affäre um den Basler Pharmakonzern und seine griechische Filiale Novartis Hellas gehe es um einen noch grösseren finanziellen Schaden für den griechischen Staat als im Korruptionsfall Siemens.
Die moralische Beschädigung komme noch dazu, so sagte der Justizminister diese Woche der griechischen Nachrichtenagentur ANA: Geld machen mit überteuerten Medikamenten in einer Zeit, in der sich die Griechen keine Arzneien leisten konnten.
Zehn führende griechische Politiker, darunter zwei ehemalige Regierungschefs, stehen im Verdacht, zwischen 2006 und 2015 Bestechungsgelder von Novartis in der Höhe von etwa 50 Millionen Euro kassiert zu haben. Der Schaden für den Staat wird auf rund drei Milliarden Euro geschätzt.
Laut Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft stehen der ehemalige konservative Ministerpräsident Andonis Samaras und Panagiotis Pikrammenos, ein Richter, der 2012 nur wenige Wochen lang eine Übergangsregierung anführte, auf der Liste der Bestechungsempfänger.
Auch dem jetzigen EU-Kommissar für Migration und früheren Gesundheitsminister, Dimitris Avramopoulos, sowie dem Chef der Griechischen Notenbank (früherer Finanzminister) Yannis Stournaras wird vorgeworfen, unrechtmässig Geld von Novartis empfangen zu haben. Ein ehemaliger Vizepräsident von Novartis Hellas, Konstantinos Frouzis, soll die treibende Kraft hinter der Affäre gewesen sein.
Alle Beschuldigten bestreiten die Vorwürfe – die sich, griechischen Medienberichten zufolge, auf 7000 Seiten erstrecken und am Dienstag dem Parlament übergeben wurden. Die Parlamentarier sollen nun entscheiden, ob die Belege der Staatsanwaltschaft ausreichen, um die Immunität der beschuldigten Politiker aufzuheben, die – wie Samaras etwa oder der stellvertretende Chef der konservativen Nea Dimokratia, Adonis Georgiadis – ein Abgeordnetenmandat haben.
Schmiergelder sollen höhere Preise in Griechenland ermöglicht haben – und das Land dient als Referenzmarkt für Europa.
Die Büchse der Pandora ging im Jahr 2016 auf, als die Börsenaufsichtsbehörde in den USA Untersuchungen gegen Novartis einleitete. Der Konzern steht unter Verdacht, jahrelang unlautere Mittel angewendet zu haben, um seine Marktposition in Griechenland zu verbessern. Zwei griechische Novartis-Manager sagten über Schmiergeldzahlungen an griechische Ärzte aus. Die FBI-Akte diente als Grundlage für die Arbeit der griechischen Ermittler mit etwa 20 Zeugen, darunter sechs Anonyme. Drei davon stünden unter Zeugenschutz in Griechenland.
Obwohl die Ermittlungsergebnisse geheim sind, sickerten Einzelheiten an griechische Medien durch. Im März 2017 trat eine griechische Staatsanwältin zurück, weil sie aufgrund ihrer Novartis-Ermittlungen von politischen Kreisen unter Druck gesetzt worden sei.
Novartis soll unter anderem rund 4000 private wie staatlich beschäftigte Ärzte bestochen haben. Am 4. Februar berichtete das griechische Investigativmagazin «Documento», der Konzern hätte Schmiergelder bezahlt, um höhere Preise für seine Medikamente in Griechenland und somit auch für den Rest Europas zu erreichen – der griechische Markt gilt als «Referenzmarkt» für den europäischen.
Regierungsminister und andere hochrangige Politiker haben angeblich auch die Konkurrenz von Novartis Hellas behindert und dem Konzern Vorrang bei Zahlungen aus dem griechischen Gesundheitssystem gesichert. «Es gibt Hinweise darauf, dass politische Entscheidungen zugunsten des Pharmakonzerns getroffen wurden», sagte Pavlos Sarakis, der Rechtsanwalt der drei unter Schutz stehenden Zeugen, der Wochenzeitung «To Vima». «In einer Zeit, in der viele Bürger keinen Zugang zu Medikamenten hatten, haben manche exzessive Preise für Medikamente gesetzt und diese Überteuerung hat die Preise auch in weiteren 29 Ländern beeinflusst», wird Justizminister Kontonis von ANA zitiert.
Beschuldigte sprechen von grosser Farce
Zeugen haben angeblich Ex-Premier Samaras beschuldigt, einen Koffer voller 500-Euro Scheine für Leistungen an Novartis Hellas entgegengenommen zu haben. Medienberichten zufolge soll die Akte Novartis auch Aussagen über Geldlieferungen im Kofferraum von Novartis-Dienstwagen an griechische Regierungsstellen beinhalten. Journalisten sollen als Mittelsmänner zwischen griechischen Politikern und dem Konzern gedient haben.
Zu den brisantesten bekannt gewordenen Vorwürfen zählen jene gegen den derzeitigen EU-Kommissar Dimitri Avramopoulos. Er soll 2006 als Gesundheitsminister unter dem Tisch Geld für HIV-Bluttests erhalten haben. 2009 soll Avramopoulos auch den Ankauf von 16 Millionen Novartis-Grippeimpfungen für Griechenland betrieben haben; das Land hat 10 Millionen Einwohner.
Avramopoulos weist die Anschuldigungen als haltlos zurück. Auch Notenbankchef Stournaras zeigt sich überzeugt: «Diese wackligen Vorwürfe haben kein Standbein.» Der ehemalige Novartis Hellas Vizepräsident Frouzis tat die Anschuldigungen als «grosse Farce» ab. Samaras drohte seinem Amtsnachfolger Tsipras gleich mit einer Verleumdungsklage. Und der Chef der konservativen Nea Demokratia, Kyriakos Mitsotakis, sieht hinter den Vorwürfen grundsätzlich den Versuch, die gesamte Partei zu verunglimpfen. Der ehemalige Pasok-Finanzminister Evangelos Venizelos, der zu den Hauptverdächtigen zählt, sieht sich ebenfalls als unschuldig.
Beobachter sagen, Tsipras lasse den Korruptionsverdacht ans Licht kommen, um selber wieder eine gute Figur zu machen.
Die Novartis-Affäre kommt zu einem günstigen Zeitpunkt für die amtierende Regierung in Athen. Seit Wochen steht der Namensstreit mit Mazedonien im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Tsipras will endlich eine Lösung mit seinem nördlichen Nachbarn finden – gegen den Willen der Mehrheit der Griechen. Nach einer weiteren Grosskundgebung der griechischen Rechten scheint Tsipras Plan noch schwieriger umzusetzen.
Und nachdem er gegen seine Wahlversprechen weitere Ausgabenkürzungen im Sinne von Griechenlands Gläubigern beschloss, ist seine Popularität längst dahin. Tsipras lässt den Korruptionsverdacht ans Licht kommen, um selber wieder eine gute Figur zu machen – das vermuten manche Politbeobachter.
«Tsipras hat seine beste Karte gespielt und zwar, dass er das neue Gesicht in der griechischen Politik ist, das frei von Korruption da steht», sagte der Politologe George Tzogopoulos vom israelischen Think-Tank BESA Center gegenüber der TagesWoche. Am wichtigsten für Griechenland sei es aber, Transparenz bei den jüngsten Korruptionsvorwürfen zu schaffen. «Wo Rauch ist, ist auch Feuer», sagt Tzogopoulos.
Die griechischen Staatsanwälte, die am Novartis-Fall arbeiten, sind mit ihrer Arbeit noch lange nicht fertig. Laut der konservativen Tageszeitung «Kathimerini» haben sie ihre Amtskollegen in der Schweiz und auf Zypern um Hilfe gebeten bei den Ermittlungen gegen einen ehemaligen leitenden Novartis-Angestellten und andere Personen, die in Verbindung zu Bestechungszahlungen an Politiker gestanden haben könnten. Ein Bankkonto von Novartis bei der Schweizer UBS soll dabei von besonderem Interesse sein.