Die Revolution des Fernsehens hat einen Namen

Einst ein Start-up, heute der Retter des Fernsehens? Netflix wagte ein Experiment und fast alle haben gewonnen. Wie und warum schildert unser Autor.

(Bild: iStock/Montage: Nils Fisch)

Einst ein Start-up, heute der Retter des Fernsehens? Netflix wagte ein Experiment und fast alle haben gewonnen. Wie und warum schildert unser Autor.

Im Fernsehen läuft aktuell das beste Programm aller Zeiten. Das liegt nicht daran, dass bei VOX, Super RTL oder auf dem Leutschenbach plötzlich Mut und Kreativität aus den Wänden sickern. Vielmehr hat der Begriff «Fern sehen» den Rahmen der raumdominierenden Flimmerkiste gesprengt und bedeutet heute etwas ganz anderes. 

Wir sitzen zwar immer noch vor einem Bildschirm, löffeln uns mit glasigem Blick durchs Nutellaglas und ignorieren jegliche Forschungsergebnisse zur Wichtigkeit von ausreichend Schlaf, aber wir haben dabei ein gewisses Mass an Freiheit zurückgewonnen. Wir bestimmen was läuft, wann es läuft, auf welchem Gerät es läuft, haben eine immense Auswahl an hochwertiger Unterhaltung und müssen dabei nicht mal eine Yogurette-Werbung ertragen.

Im Gegensatz zur Musikbranche nahm die Filmindustrie die Verbreitungstechnologien des Internets ernst und sass an den Verhandlungstisch.

Grossen Anteil daran hat Netflix, der Streaming-Dienst mit Sitz im kalifornischen Los Gatos. 1997 gegründet, baute das Start-up-Unternehmen einen florierenden DVD-Postverleih auf und setzte zehn Jahre später auf das Streamen von Filmen übers Internet per Flatrate.

Einige Talfahrten und Fehlentscheide später darf man auch dank der glücklich schlafenden Konkurrenz resümieren, dass insgesamt das meiste richtig gemacht wurde: Heute verfügt Netflix über 74 Millionen Abonnenten, 44 Millionen davon in den USA, der Rest in bald 200 Staaten weltweit. Optimistischen Prognosen zufolge, werden die Nicht-US-Abonnenten 2017 in der Überzahl sein.

Im Gegensatz zur Musikbranche, die nach wie vor mit der unentgeltlichen Verfügbarkeit ihres Produktes hadert, nahm die Filmindustrie die innovativen Verbreitungstechnologien des Internets ernst und sass an den Verhandlungstisch.

Netflix konnte sich so schon früh die Senderechte an einem umfangreichen Film- und Serienkatalog sichern. Von den grossen TV-Netzwerken noch gnädig belächelt, etablierte sich Netflix rasch als Archiv abgelaufener Staffeln aktueller Serien. 

Und siehe da: die Emanzipation des Kunden lohnte sich, offenbar zahlt man durchaus gerne für Inhalt auf dem Netz, sofern der Preis für Benutzerfreundlichkeit tiefer ist als der empfundene Stress beim mühsamen Suchen in den dubiosen Hinterhöfen des Internets. Bald machte Netflix 30 Prozent des Downstream-Internetverkehrs der USA aus, rund doppelt so viel wie Youtube. Mit der geschwellten Brust jener, die gewagt und gewonnen hatten, machte man sich auf, das Feld auch auf künstlerischer Seite von Hinten aufzurollen.

Vom berieselten Zuschauer zum schlaflosen Bestimmer

Illegale Downloads und eine hilflos innovationsfeindliche Hollywood-Industrie hatten das Kino des westlichen Kulturkreises im neuen Jahrtausend in eine kreative Sackgasse getrieben. Unter der heimlichen Führung des Pay-TV-Senders HBO erkämpften sich Serien zunehmend den Thron packenden Storytellings und holten in Punkto Bildqualität und Spezialeffekten zunehmend auf.

Spannungsbögen zogen sich nun über 5 x 12 Stunden statt 90 Minuten und kamen vermehrt als ganzes Paket daher, sei es nach Ablauf der regulären, klassisch wöchentlichen Ausstrahlungs-Frequenz in einer DVD-Box oder illegal aus dem Netz.




Wer zum Beispiel die Urmutter aller Super-Serien, die «Sopranos», verpasst, oder als Nicht-Amerikaner gar nicht erst angeboten bekam, fand die kompletten sechs Staffeln entweder bald bei Ex Libris oder auf diversen Downloadportalen. Eine Woche (oder schlaflose 86 Stunden, «Binge-Watching» genannt) später, kroch man mit geröteten Augen ins Tageslicht zurück und bemühte sich standhaft, den neu angeeigneten New-Jersey-Slang wieder loszuwerden.

Und so ging es weiter mit der Bestatterfamilie von «Six Feet Under», der Baltimore-Parabel auf die hässliche Seite des amerikanischen Traums in «The Wire», Jack Bauers brachialem Antiterrorkampf in «24», «Breaking Bad», «Mad Men», «Homeland» und so weiter.

Netflix hatte ein Echtzeit-Legalisierungs-Experiment durchgeführt und (fast) alle hatten gewonnen.

Netflix hatte aufgepasst, sich seine Notizen gemacht und beschloss ein neues Wagnis: die erste eigene Grossproduktion. Für den Preis eines mittleren Hollywood-Blockbusters wurden zwei Staffeln von «House of Cards» quasi im Sack gekauft und nach Produktionsende jeweils komplett ins Netz gestellt. Binge-Watching hatte auf einmal den Segen des Urhebers und wurde endgültig salonfähig.

Dass die David Fincher/Kevin Spacey-Kollaboration von Publikum und Kritikern prompt in den Pantheon der besten Serien aller Zeiten erhoben wurde, war nicht nur Glück: Netflix bewies ungewohntes Vertrauen und überliess den Machern den Final Cut. Mit ein Grund, warum diese mit ihrem Projekt nicht bei einem der anderen Mitbieter landeten.

Netflix hatte ein Echtzeit-Legalisierungs-Experiment durchgeführt und (fast) alle hatten gewonnen: Die Zuschauer bekamen tolle Unterhaltung ohne Werbeunterbrechung, kreative Köpfe konnten ihre Ideen verwirklichen und Netflix selbst wurde zu einem ernstzunehmenden Player der Unterhaltungsindustrie. Überspitzt gesagt: Dieser Coup verdeutlichte, wie Fernsehen nach fast drei Jahrzehnten des allgemein akzeptierten, aber auch hilflos beobachteten Niedergangs, wieder anfing Sinn und Spass zu vermitteln.

Netflix pfeift auch auf Quoten – zumindest auf deren Veröffentlichung.

Als Neo-Produzent sieht sich Netflix heute mit neuen Konkurrenten konfrontiert. Hulu, das Kooperations-Videoportal von NBC, ABC und FOX, oder Amazon Prime, welches die Unterhaltungs-Flatrate quasi als Bonus im Premium-Liefer-Abo integriert. Vor allem aber ist es der bereits erwähnte Pay-TV-Kanal HBO («Game Of Thrones», «True Blood», «Homeland»), der mit doppelt so vielen Global-Abonnenten und neuerdings vergleichbaren Streaming-Angeboten ein ähnliches Portfolio mitbringt, angesiedelt irgendwo zwischen Produzent und Verteiler.

Um inhaltlich mitzuhalten, investiert Netflix massiv in neue Produktionen. Dank dem Frauenknast-Drama «Orange Is the New Black», Kokain-Papst Pablo Escobars halb in Spanisch gesprochene Biografie «Narcos»,  der True-Crime-Doku «Making A Murderer» oder der etwas nervigen Westcoast-Hipster-Romanze «Love», hält sich das Image eines Unterhaltungs-Davids, dem Qualität und Experimentierfreudigkeit am Herzen liegt und der ein bisschen anders ist. Tatsächlich pfeift Netflix auf die altertümlichen Instrumente seiner Goliath-Konkurrenz: es bleibt werbefrei und veröffentlicht keine Einschaltquoten (Ratings).

Auch HBO spielte in seinen Anfangsjahren den «no ratings, just content»-Underdog und manche Mitarbeiter sollen hinter vorgehaltener Hand jenen Zeiten nachtrauern, als man selbst noch anders war als der Rest. Bei den klassischen Networks wie ABC, NBC, CBS oder FOX haben Ratings eine wirtschaftliche Kontrollfunktion, mit direkter Wirkung auf den weiteren Verlauf einer Serie.

Gute Ratings treiben Werbeeinnahmen nach oben und erhöhen damit den Marktwert einer Serie, ihrer Schauspieler und ihrer Entwickler. Die Schattenseiten dieses Systems: wirtschafltlicher Erfolgsdruck, der eine gelobte Serie nach einer Staffel unter den Erwartungen rasch ins Archiv befördert, oder Werbekunden, die inhaltlichen Einfluss nehmen, um ihre Zielgruppe nicht zu vergraulen.

Ganz offiziell verweigert Netflix just aus diesem Grund den eigenen Filmemachern den Ratings-Einblick. Chief Content Officer Ted Sarandos sagt dazu, man wolle die kreative Arbeit nicht mit unnötigem Druck belasten.

Experten sprechen von einer «tickenden Zeitbombe»

Die Ratings-Verweigerung irritiert die Branche, weil alle Mitwirkenden davon abhängig sind, dass ihre Arbeit wirtschaftlich quantifiziert werden kann. Im Allgemeinen akzeptiert man das Verhalten aber noch: Es handle sich um eine noch junge Verbreitungstechnologie, die sich mit steigender Etablierung soweiso irgendwann den üblichen Vorgängen zu unterwerfen habe.

Vereinzelt wird geunkt, Netflix mauere mit der Schweigetaktik auch seine scheinbar schiefen Finanzen ein. Medienanalyst Michael Pachter sieht eine tickende Zeitbombe, es werde zu viel investiert. Ohne eine markante Preiserhöhung drohe ein Rückgang der hochgelobten Original-Produktionen.

Der wahre Kern des Quoten-Embargos liegt aber wohl im Wert der Viewerdaten für Netflix selbst: neue Produktionen werden anhand konkreter Zahlen in Auftrag gegeben und sollen massgeblich dafür verantwortlich sein, dass praktisch jede Eigenproduktion der letzten Jahre zu einem Hit wurde.

Es klingt logisch: Lass die Leute selber bestimmen, was sie schauen wollen, und dann gib ihnen mehr davon. Darin liegt diese Revolution des Fernsehens, die eigentlich keine sein sollte. Bleibt zu hoffen, dass dieser Balanceakt zwischen Innovation und Massentauglichkeit nachhaltig funktioniert und das Angebot vielseitig und mutig bleibt.

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