Die stille Katastrophe

Der Zugang zu Trinkwasser ist ein Menschenrecht. Doch der Verteilkampf um das seltene Gut wird härter – angeheizt durch Konzerne, die die Quellen kommerzialisieren wollen.

Kampf ums Wasser im Tschad: Das lebenswichtige Gut muss aus 70 Metern Tiefe geschöpft werden. (Bild: Prisma. Montage: Nils Fisch)

Der Zugang zu Trinkwasser ist ein Menschenrecht. Doch der Verteilkampf um das seltene Gut wird härter – angeheizt durch Konzerne, die die Quellen kommerzialisieren wollen.

Wo Wasser jederzeit unbeschränkt und in bester Qualität aus jedem Wasserhahn sprudelt, kann man sich nur schwer vorstellen, dass weltweit noch immer rund 900 Millionen Menschen, weit mehr als die gesamte Bevölkerung Europas, keinen gesicherten Zugang zu sauberem Trinkwasser haben – und 2,6 Milliarden Menschen, fast 40 Prozent der gesamten Weltbevölkerung, auf Toiletten und Waschgelegenheiten verzichten müssen.

Unter diesem unvorstellbaren Wassermangel leidet aber nicht, wie man vermuten könnte, bloss die Bevölkerung der wasserärmsten Regionen, den gros­sen Trocken- und Wüstengebieten der Welt, sondern auch ein Teil der Bevölkerung in Weltgegenden, die durchaus über ausreichende Wasservorräte verfügen würden. Etwa die Bewohnerinnen und Bewohner der riesigen Slums fast aller Megacitys der Welt – von Mumbai und Kalkutta über Lagos und Kinshasa bis Mexico City und São Paulo, aber auch zahlloser mittelgrosser Städte in vielen Entwicklungsländern.

Gut gemeinte Millenniumsziele

Diese Situation ist deshalb so bedrückend, weil diese grossstädtischen Armenviertel rasant wachsen. Jedes Jahr strömen Hunderttausende oder gar Millionen Menschen in der Hoffnung auf Arbeit und Wohlstand aus ländlichen Gebieten in die Städte. Allein Mexico City wächst jährlich um rund zwei Millionen Menschen. Derzeit lebt über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten – in zehn Jahren werden es laut Experten der UNO rund drei Viertel sein. Und: Bereits heute lebt jeder dritte Stadtbewohner der Welt in einem Elendsviertel; in 25 Jahren, so prognostiziert eine Studie des UNO-Programms Habitat, wird jeder dritte Weltbürger in einem Armutsviertel leben.

Vor elf Jahren haben die Regierungen dieser Welt am sogenannten Millenniumsgipfel beschlossen, den Anteil der Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, bis 2015 um die Hälfte zu re­duzieren. Am Erdgipfel von Johannesburg im Jahr 2002 wurden die Millenniumsziele noch um den Zusatz ergänzt, auch den Zugang zu sanitären Einrichtungen bis 2015 in gleichem Mass zu verbessern. Gemeint sind damit allerdings nicht sprudelnde ­Wasserhahnen in jedem Haus, sondern, wie die Experten es später definierten, eine tägliche Wasser­ration von 20 Litern pro Person mit Wasseranschlüssen und sanitären Einrichtungen, die nicht weiter als ­einen Kilometer von den jeweiligen Haushalten entfernt sind.

Es ist durchaus möglich, dass das Millenniumsziel hinsichtlich des Trinkwasserzugangs rechnerisch ­sogar erreicht wird. Das liegt vor allem daran, dass China und Indien in den vergangenen Jahren die Wasserversorgung vor allem in den ländlichen Gebieten und mittelgrossen Städten enorm ausgebaut haben. Das gilt aber nicht für die meisten anderen Entwicklungsländer – etwa die afrikanischen Staaten südlich der Sahara, wo sich die Zahl der Menschen, die keinen Zugang zu Trinkwasser haben, seit 1990 fast verdoppelt hat.

Die Gründe dafür sind ­re­gional sehr unterschiedlich: die Bevölkerungsentwicklung in Afrika, der Klimawandel, der in den subtropischen Regionen für Wasserknappheit sorgt und auf dem indischen Subkontinent zu immer häufigeren Überschwemmungskatastrophen, zum Zusammenbruch und zur Verschmutzung der Wasserversorgungssysteme führt.

Privatisierung verschärft Wasserknappheit

Und meist spielen auch die politischen Verhältnisse eine zentrale Rolle, wie der Film «Bottled Life» des Schweizer Regisseurs Urs Schnell, der dieser Tage in den Schweizer Kinos anläuft, aufzeigt. Wo die Re­gierungen und Kommunen den Aufbau entsprechender Infrastrukturen vernachlässigen und die Wasser­versorgung privaten Firmen überlassen, kommt es oft zu gefährlichen Monopolsituationen: etwa in Nigeria oder Pakistan, wo Nestlé mit ihrem Produkt «Pure Life» den Markt erobert hat (siehe auch Seite 10). «Was in den letzten 15 Jahren passierte, ist die Verdrängung des normalen Trinkwassers, die Umwandlung des Wassers in eine Ware», kritisiert der pakistanische Rechtsanwalt Ahmad Rafay Alam in Schnells Film die Entwicklung in seinem Land.

Hier könnte eine Resolution der UNO-Vollversammlung vom 18. Juli 2010, die den Zugang zu Wasser als Menschenrecht deklariert, eine Wende zum Besseren bringen. Vorausgegangen war diesem wichtigen Entscheid eine jahrzehntelange, völlig uner­giebige ­Diskussion zwischen entscheidenden internationalen Institutionen. Auf der einen Seite erklärten Unter­organi­sationen der UNO wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO, die Weltgesundheitsorgansiation WHO, die Organisa­tion der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur Unesco, das Umweltprogramm UNEP oder das Entwicklungsprogramm UNDP schon seit Langem in ihren Grundsatzerklärungen, Resolutionen und Empfehlungen, dass der Zugang zu Wasser ähnlich wie der Anspruch auf eine gesunde Umwelt ein Menschenrecht und deshalb eine Aufgabe der Öffentlichkeit, der Regierungen und der Weltgemeinschaft sei.

Auf der anderen Seite bestanden Institutionen, in denen die grossen multinationalen Konzerne entscheidenden Einfluss haben, so die Weltbank, der Weltwasserrat, das Netzwerk Global Water Partnership und die Welthandelsorganisation WTO darauf, dass Wasser vor allem ein kommerzielles wirtschaftliches Gut sei, also wie andere Wirtschaftsgüter dem freien Markt überlassen werden soll.

Hoffnungslose Situation in Megastädten

Allerdings: Die Resolution der UNO-Vollversammlung hat zwar grosses «symbolisches» Gewicht, aber keinen völkerrechtlich verbindlichen Status. Was die Resolution konkret bedeutet, welche politischen Folgen sie haben wird, ist eines der Themen, die im kommenden März in Marseille am 6. World Water Forum des Weltwasserrats diskutiert werden.

Mit dieser Frage befasst sich seit Längerem auch ein UNO-Ausschuss, der an der Konkretisierung des von 149 Staaten ratifizierten, völkerrechtlich verbind­lichen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kul­turelle Rechte arbeitet. Er versucht, unklare Formulierungen dieses Abkommens zu präzisieren und interpretatorische Schlupflöcher zu eliminieren. Über die Festlegung von konkreten Kriterien könnte so der Zugang zum Wasser schrittweise zu einklag­baren Rechtsnormen führen.

Während so das Ziel, auch den Ärmsten einen ­sicheren Zugang zu sauberem Trinkwasser zu gewährleisten – auch gegen den heftigen Widerstand von multinationalen Getränke- und Lebensmittelkonzernen wie Nestlé, Danone oder Coca-Cola – schrittweise erreicht werden könnte, ist das beim anderen Millenniumsziel, dem verbesserten Zugang zu sanitären Einrichtungen, kaum mehr möglich. Vor allem in den Megacitys und grossen Städten der Dritten Welt ist die Lage nahezu hoffnungslos.

Menschen können Wasserpreise nicht zahlen

Beim schnellen Wachstum der Armutsviertel übersteigt der dafür notwendige Aufwand alle finanziellen Möglichkeiten dieser Megastädte. Jede dieser Metropolen müsste ihre Wasserversorgung und -entsorgung jährlich um die gesamte Infrastruktur einer Stadt wie Zürich erweitern: Rund 1500 Kilometer Leitungen müssten jedes Jahr verlegt werden, mehrere Wasser- und Klärwerke, zahlreiche Reservoirs und Pumpstationen gebaut werden.

Zugleich müssten jedes Jahr neue Wasserquellen mit einer Kapazität von mehreren Hundert Millionen ­Kubikmetern erschlossen werden. Der Unterhalt der bestehenden Leitungsnetze würde weitere und stetig steigende Kosten zeitigen. Zum Vergleich: Der Neuwert der Wasserversorgung der wasserreichen, nur knapp acht Millionen Einwohnerinnen und Einwohner ­zählenden Schweiz beläuft sich auf rund 80 Milliarden Franken, die jähr­lichen Betriebs- und Erhaltungs­kosten auf über zwei Milliarden.

In den vergangenen drei Jahrzehnten haben die Weltbank und der Internationale Währungsfonds ihre diesbezüglichen Kreditzusagen an die Bedingung geknüpft, dass die Wasserversorgung teilweise oder vollständig privatisiert wird. Einige wenige weltweit operierende Wasserkon­zerne haben sich die meisten dieser Aufträge in der Hoffnung auf grosse Profite gesichert. Inzwischen sind viele dieser Privatisierungs­vorhaben gescheitert oder mussten auf Druck der Bevölkerung, welche die immer teureren Wasserpreise nicht bezahlen kann, rückgängig gemacht werden.

Das Millenniumsziel, den Anteil der unversorgten Bevölkerung bis 2015 auf die Hälfte zu reduzieren, ist in weite Ferne gerückt: In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen sogar jedes Jahr um rund 50 Millionen zugenommen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20/01/12

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