Wasserschloss Schweiz im Visier von Vittel & Co

In der Schweiz vertrauen immer mehr Leute dem Hahnenwasser: Über 80 Prozent trinken es täglich. Dennoch boomt der Mineralwasser-Import. Warum eigentlich?

Abfüllanlage von Nestlé Waters Supply Est im französischen Vittel. (Bild: Fred Marvaux/REA/laif)

In der Schweiz vertrauen immer mehr Leute dem Hahnenwasser: Über 80 Prozent trinken es täglich. Dennoch boomt der Mineralwasser-Import. Warum eigentlich?

Keiner käme auf die Idee, Wasser in den Rhein zu tragen. Doch genau das passiert im übertragenen Sinn beim Mineralwasser: Die Schweiz als «Wasserschloss Europas» importiert mehr und mehr Mineralwasser aus dem Ausland. Bereits jedes dritte Flasche, die in der Schweiz getrunken wird, ist mit Wasser von jenseits der Grenze gefüllt. Dabei fällt in der Schweiz dermassen viel Regen und Schnee, dass wir nur rund drei Prozent davon für die gesamte Wasserversorgung benötigen, inklusive Verbrauch von Haushalten, Industrie und Landwirtschaft.

Doch jetzt erobern «Contrex», «Evian», «Perrier», «Vittel», «San Pellegrino», und wie all die Wässer sonst noch heissen, die Schweiz. In den letzten 20 Jahren konnten die Wasserimporteure ihren Marktanteil mehr als verdreifachen. Das bekommen die inländischen Produzenten zu spüren. «Der Preiskampf ist härter geworden. Nicht nur die Produzenten, auch die Händler leiden darunter», sagt Simon Völlmin, Leiter Finanzen und Verwaltung der Mineralquelle Eptingen.

Der Preis zerfällt

Konzerne wie Nestlé oder Danone lassen im Ausland billiger produzieren und setzen mit tiefen Preisen die Konkurrenz unter Druck. Konsumentinnen und Konsumenten profitieren und bezahlen für Mineralwasser im Laden immer weniger: So kostet zum Beispiel eine 1,5-Liter-Mineralwasserflasche von «M-Budget» nur noch 25 Rappen, ein Sechserpack «Prix Garantie»-Wasser bei Coop noch Fr. 1.45. Das entspricht beim Coop-Wasser einer Preissenkung von über 40 Prozent in fünf Jahren.

Die Pressestelle von Coop schreibt denn auch nicht nur von einer «Preissenkung», sondern von einem «Preis­zerfall». «Die Marktpreise sind heute teilweise kaum noch höher als die Her­stel­lungs­kosten», sagt Simon Völlmin von der ­Mineralquelle Eptingen, die Coop noch bis im Februar mit Wasser der Quelle in Lostorf das «Prix Garantie»-Mineralwasser beliefert. Danach wird Coop das Wasser von einer eigenen Quelle im Wallis beziehen.

«Evian» erobert die Schweiz

Doch nicht nur tiefere Preise haben ausländischen Marken den Weg in die Schweiz geebnet. Es sind vor allem auch die gros­sen Marketinganstrengungen der Wassergiganten. So konnte etwa «Evian»-Wasser beim Grossverteiler Coop in den letzten Jahren deutlich zulegen. «Diese Entwicklung ist wohl eher dem Produkt und der guten Kommunikation zuzuordnen als der ausländischen Herkunft», sagt Coop-Sprecher Urs Meier. Gekonnt nehmen verschiedene Marken den Gesundheits- und Fitnesstrend auf und deklarieren ihr Produkt geschickt als besonders gesund, obwohl der Mineralienanteil im Vergleich zur Konkurrenz bescheiden daherkommt.

Dabei vergessen viele Konsumentinnen und Konsumenten, dass sie mit dem Kauf von importiertem Wasser auf Kosten der Umwelt sparen. Denn Wasser, das in der Schweiz im Überfluss vorhanden wäre, über Hunderte von Kilometern in die Schweiz zu karren, ist schlecht für die Ökobilanz. Was viele nicht wissen: Die weiten Transport­wege belasten die Umwelt wesentlich stärker als etwa die Verpackung. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie im Auftrag des Schweizerischen Vereins des Gas- und Wasserfaches (siehe Rückseite des Artikels). Eine Einschätzung, die auch Nestlé-Präsident Peter Brabeck teilt. An einer Pressekonferenz der Interessengemein­schaft ­Mineralwasser im Sommer 2010 gab er unumwunden zu, dass Mineralwasser nicht weiter als 250 Kilometer transportiert werden sollte.

Transporte belasten die Umwelt

Gemäss der Studie schneidet Hahnenwasser punkto Umweltbelastung mit Abstand am besten ab. Abfüllung, Verpackung und Transport, die sich beim Mineralwasser negativ in der Umweltbilanz niederschlagen, fallen beim «Hahnenburger» weg. Insgesamt belastet das Wasser aus dem Hahnen die Umwelt rund 100-mal weniger stark als Mineralwasser. Selbst wer das Hahnenwasser mit einem Sodagerät zum Sprudeln bringt, schneidet in Sachen Ökobilanz um ein Mehrfaches besser ab als die Konsumenten von Mineralwasser – allerdings nur, wenn das Soda-Gerät für mehr als einen Liter pro Tag und mehrere Jahre lang zum Einsatz kommt.

113 Liter: So hoch ist der Pro Kopfverbrauch von Mineralwasser in der Schweiz. Seit rund zehn Jahren schwankt dieser Wert nur noch wenig. Das Potenzial scheint ausgereizt, für etwas Wachstum sorgt nur noch die Zunahme der Bevölkerung. In diesem verschärften Wettbewerb können sich Hersteller auf Nischen spezialisieren oder versuchen, auf Kosten der Konkurrenz zu wachsen.

Grosse schlucken Kleine

Die in einem solch gesättigten Markt typische Entwicklung hat auch beim Mineralwasser eingesetzt: Die Grossen fressen die Kleinen. Nestlé schluckte «Henniez», Coca-Cola die Valser Mineralquellen, und Feldschlösschen übernahm «Rhäzünser».

Die vorerst letzte grosse Übernahme gelang Coop. Der Grossverteiler übernahm im Wallis die Pearlwater Mineralquellen AG. Coop wird damit selbst zum Produzenten. Bevor Coop in die Produktion einstieg, teilten sich ­gemäss «Handelszeitung» die sechs grössten Produzenten, unter diesen Nestlé und die Migros, 90 Prozent des Marktvolumens von rund ­einer Million Schweizer Franken auf. So hoch schätzt Marcel Kreber, Ge­neralsekretär des Verbandes Schweize­rischer Mineralquellen und Soft-Drink-Produzenten, das Marktvolumen in der Schweiz.

Jetzt steigt auch Coop in das Geschäft ein

Coop zielt mit der Übernahme der Pearlwater-Quelle im Wallis nicht nur auf den inländischen Markt. Der Grossverteiler betont, der Weltmarkt für Wasser habe für alle multinatio­nalen Nahrungsmittelkonzerne eine enorme strategische Bedeutung.

Wachstumschancen im Mineralwassermarkt ortet der Grossverteiler vor allem in Schwellenländern und Nordamerika. «In vielen Entwicklungsländern ist das Leitungswasser oft so schlecht, dass die Verbraucher keine andere Chance haben, als zu abgefülltem Wasser zu greifen. Dies bedeutet für Pearlwater zusätzliche Absatzchancen», schreibt Coop.

Nur 14 Prozent finden Hahnenwasser schlechter

Zu einem erstaunlichen Ergebnis kommt auch eine neue repräsentative Umfrage des Marktforschungsinsituts Demoscope im Auftrag des Schweize­rischen Vereins des Gas- und Wasser­faches (siehe Rückseite des Artikels): Knapp 80 Prozent der Befragten trinkt «jeden oder fast jeden Tag» oder mehrmals täglich Hahnenwasser. Vor zehn Jahren lag dieser Wert noch bei weniger als zwei Dritteln. Und der Anteil derjenigen, die finden, das kühle Nass aus dem Hahnen sei qualitativ schlechter als Mineralwasser, ist von 26 auf 14 Prozent gesunken. Trink­wasser gilt für viele der Befragten als gesund, hat den Vorteil, ein regionales Produkt und ökologisch zu sein.

Weshalb die Schweizer Bevölkerung trotzdem immer mehr ausländisches Mineralwasser trinkt – diese interessante Frage stellte das Marktforschungsinstitut allerdings nicht. So bleibt der Widerspruch, dass Hahnenwasser in der Schweizer Bevölkerung zwar sein Image aufpolieren konnte und immer beliebter wird, sich gleichzeitig aber viele Konsumentinnen und Konsumenten beim Grossverteiler für ein ausländisches Mineralwasser entscheiden – «Wasserschloss Europas» hin oder her.
Da sind die Wasservögel unter den Zugvögeln konsequenter: Jedes Jahr überwintert rund eine halbe Million in der Schweiz. Weil sie hier so viele Wasserstellen finden.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20/01/12

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