Die Berner Reitschule ist 25 Jahre alt. Eben hat ihr die Politik das schönste Geschenk gemacht, das sich ein AJZ wünschen kann: Zwangsauflagen. Damit ist die schwierige Diskussion über den Sinn der Reitschule im 21. Jahrhundert einmal mehr vertagt.
Andreas Berger stand in jener milden Mainacht vor der UBS-Filiale unweit des Bundesplatzes und konnte es kaum fassen. Gegen 3000 junge Demonstranten zogen an ihm vorüber mit Soundmobilen, Transparenten und Leuchtfackeln – aber es flog kein einziger Farbbeutel gegen die Grossbank.
«Das wäre 1987 unvorstellbar gewesen», sagt Berger. Als Filmemacher untersucht er seit bald dreissig Jahren das alternative und jugendbewegte Bern. Seit Anfang Mai muss Berger Überstunden schieben.
Der Konflikt um die Reitschule ist in Bern voll entbrannt – einmal mehr. Schuld trägt diesmal der übereifrige Regierungsstatthalter und Sozialdemokrat Christoph Lerch. Vor drei Wochen erliess er eine Reihe von Zwangsmassnahmen zur Reitschule. Unter anderem müssen die Aktivisten den beliebten Vorplatz um 0.30 Uhr räumen und Gäste wegweisen, die sich nach Polizeistunde noch draussen aufhalten. «Wir wollen die Lärm- und Gewaltprobleme in den Griff bekommen», erklärte Lerch.
Hehrer Wunsch
Ein hehrer Wunsch, passiert ist aber das Gegenteil. Innert Tagen hat sich eine breite Protestbewegung gebildet. Neben der Nachtdemo gab es unbewilligte Freiluft-Konzerte bis in die Morgenstunden, ein Grossfeuerwerk nach Mitternacht mit Freibier-Ausschank und Kundgebungen auf dem Vorplatz. Die Innenstadt ist gesäumt von Klebern und Plakaten. «Nehmt ihr uns den Vorplatz, nehmen wir uns die Stadt», steht auf den einen. Andere sind weniger prosaisch: «Figg di Herr Lerch!»
Manche munkeln schon, Bern stehe ein heisser Sommer bevor – und kichern wie Schulmädchen vor der Turnstunde mit dem süssen Jungen aus der Parallelklasse. Denn wenn die Jugendlichen vom Sommer 2012 sprechen, meinen sie eigentlich den Herbst 1987. Der ist längst zum lokalen Erinnerungsort geworden. Und wie immer bedauern sich die Zu-spät-Geborenen dafür, ihn verpasst zu haben. Nun keimt die Hoffnung, auch sie könnten sich noch verewigen in der Stadtchronik. Entscheiden wird es sich in den nächsten Wochen.
Erinnerungsort Zaffaraya
Was 1987 geschah? Die Polizei räumte das von Aussteigern und Alternativen gegründete Hüttendorf Zaffaraya. Das unzimperliche Vorgehen der Sicherheitskräfte löste eine für Berner Verhältnisse beispiellose Protestwelle aus. Schüler streikten, Kulturschaffende begehrten auf, Bürger errichteten Barrikaden in der Innenstadt. Und Woche für Woche gingen Tausende auf die Strasse, bis die Stadtregierung einlenkte und den Jugendlichen verschämt die Schlüssel zur Reitschule aushändigte.
Tom Locher zum Beispiel weiss noch genau, wo er sich befand an jenem 17. November 1987: in einem Büro des Betreibungsamtes, wo er als Siebzehnjähriger eine Lehre absolvierte. Von der Zaffaraya-Räumung erfuhr er durchs Radio. «Ich habe das damals instinktiv daneben gefunden», sagt Locher bei einem Espresso in der Reitschule. Was es bei ihm ausgelöst hat? «Ich bin aufmerksam geworden.» Wenige Monate später schloss sich Locher den Aktivisten an. Heute engagiert er sich in der Mediengruppe und ist beinahe täglich in der Reitschule anzutreffen.
«Scharfe Hunde»
Die Parallelen zu 1987 sieht auch Filmemacher Andreas Berger, der jenen Protesten mit «Berner Beben» ein Denkmal gesetzt hat. Auch damals sei es um Freiräume gegangen, auch damals sei der Unmut gross gewesen, sagt er. «Doch 1987 gab es scharfe Hunde bei der Polizei und bei den Behörden, die Fronten waren total verhärtet.» Das sei heute anders. Einerseits sei die Stadtregierung gesprächsbereit. Andererseits, die Leute an der Nachtdemo seien «hauptsächlich Partypeople», sagt Berger. Es klingt ein bisschen abschätzig. Als würden sie den Ruf der Reitschule beschädigen.
Seit bald 25 Jahren bildet sie den primären Kristallisationspunkt lokaler Gesinnungsprüfungen. Da sind die bürgerlichen Politiker mit ihrer Dauerempörung über den «rechtsfreien Raum» und den «Schandfleck» an der Einfallsachse in die Stadt. In schöner Regelmässigkeit fordern sie die Schliessung oder den Abriss des Gebäudes, um Platz zu schaffen für – wahlweise – eine Shopping-Mall, ein Schwimmbad oder ein Parkhaus. Fünfmal haben diese Kämpfer für Recht, Ordnung und Sitte in den letzten zwanzig Jahren Volksinitiativen gegen die Reitschule eingereicht. Fünfmal hat das links-grüne Bern abgelehnt, zuletzt 2010 mit donnernden 68 Prozent.
Eine schützende Hand
Kein Wunder, wächst die Verzweiflung im bürgerlichen Lager. Als 100 Autonome im Herbst gegen den Kapitalismus demonstrierten, stellte sich ihnen ein breitbeiniger Rocker in den Weg. Jimy Hofer, Anführer der Berner Motorradgang Broncos, forderte die Vermummten auf, abzuhauen aus seiner Stadt. Sinngemäss: Sonst gehe hier gleich ein Donnerwetter los. Die Demonstranten griffen zum Pfefferspray und brachten den Hünen zu Fall, worauf Hofer Trost suchte bei den lokalen Medien, die den zwielichtigen Herrn eilfertig zum Winkelried erklärten.
Ebenso traditionell hält die rot-grüne Mehrheit der Stadtregierung ihre schützende Hand über das Kulturzentrum. Dass Chaoten nach gewalttätigen Demos immer wieder Unterschlupf in der Reitschule finden, dass nirgendwo mehr Drogen umgeschlagen werden als auf dem Vorplatz, dass alle paar Wochen Polizeifahrzeuge mit Steinen und Flaschen angegriffen werden – geschenkt. Gelobt wird stattdessen der Kulturbetrieb: Die Betriebe seien hochprofessionell geführt, würden Dutzende Arbeitsplätze bieten und mehrere Millionen Franken jährlich umsetzen. Tatsächlich zählten Dachstock, Kino, Theater, Frauenraum und die Rössli-Bar allein im vergangenen Jahr rund 110’000 Besucher.
Kehrseiten der Professionalisierung
Wenngleich die Verbeamtung der Reitschule nicht so weit fortgeschritten ist wie etwa bei der Roten Fabrik in Zürich: Die Professionalisierung hat durchaus Kehrseiten, die das Zentrum zumindest teilweise infrage stellen. Wenn etwa die jungen Anarchisten Konzerte gegen einen G-8-Gipfel veranstalten wollen, müssen sie damit wortwörtlich unter die Bahnbrücke ausweichen, weil im Dachstock schon irgendein zweitklassiger DJ gebucht wurde. Der Kulturbetrieb frisst just jene Freiräume auf, die das Jugendzentrum zu schützen vorgibt.
Es ist nur ein Beispiel dafür, dass es sich viele Reitschüler in ihrer antikapitalistischen, antifaschistischen, antisexistischen Zone gerade so gemütlich eingerichtet haben wie die pantoffeltragenden, konsumwilligen Systemstützen, die sie so gerne beschimpfen. 1987 war das, da sind sich viele Aktivisten sicher, noch ganz anders.
Selbstverwaltet statt autonom
Die Unterschiede zu früher? Tom Locher hat diesen Satz schon mehrmals diktiert. «Früher war die Reitschule autonom und selbstbestimmt. Heute sind wir basisdemokratisch und selbstverwaltet.» Haben sich also nur die Begriffe geändert? Locher hat noch ein Beispiel: «Früher waren alle Türen prinzipiell offen. Immer. Auch die zum Alkohollager. Heute gibt es ein kompliziertes Schlüsselsystem.»
Also doch eine Verbürgerlichung? Locher winkt ab. Anpassungen seien immer wieder nötig – nicht zuletzt wegen der exponierten Lage. Trotz allem brauche Bern die Reitschule auch heute noch. Sie sei der letzte Ort in der Stadt, an dem kein Konsumzwang herrsche. Wo Jugendliche sich unbehelligt aufhalten könnten. Wo der neoliberale Ausgrenzungsdruck noch nicht hinreiche. «Die Reitschule ist eine Oase in der Wüste der Ordnung.»
Die schwierigen Fragen nach dem Sinn der Reitschule im Hier und Jetzt sind sowieso erst einmal vom Tisch. Die Reihen haben sich geschlossen, Priorität geniesst nun der Kampf gegen Regierungsstatthalter Lerch. Mal ehrlich: Wer braucht schon einen guten Zweck, wenn er einen bösen Feind hat?
Am 2. Juni wird in Bern wieder demonstriert. Weit über 4000 Personen haben auf Facebook ihr Kommen angekündigt. Vielleicht haben sie ja recht. Es könnte ein heisser Sommer werden.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.05.12