Voll auf Strom gesetzt

Ruedi Rechsteiner zeigt, wie die Schweiz auf erneuerbare Stromproduktion umsteigen kann. Das ist gut. Besser wäre eine optimale Energie-versorgung insgesamt.

Setzt die Schweiz stärker auf Windstrom, muss sie sich europäisch besser vernetzen. (Bild: Bob Strong/Reuters)

Ruedi Rechsteiner zeigt, wie die Schweiz auf erneuerbare Stromproduktion umsteigen kann. Das ist gut. Besser wäre eine optimale Energie-versorgung insgesamt.

100 Prozent erneuerbar – so gelingt der Umstieg auf saubere erschwingliche Energien.» Dieser Titel von Ruedi Rechsteiners neuem Buch verspricht mehr, als der Inhalt hält. Denn die «100 Prozent erneuerbar» beschränken sich auf die Elektrizität. Diese deckt aber nur einen Viertel des Schweizer Energieverbrauchs. Die übrigen drei Viertel der Energie bezieht die Schweiz zu 90 Prozent aus nicht erneuerbaren Quellen, vorab aus importiertem Erdöl und Erdgas. Die Elektrizität hingegen stammt schon heute zu 55 Prozent aus erneuerbarer Wasserkraft.

Dem Buchautor geht es also um die 45 Prozent des Schweizer Stroms, die bislang hauptsächlich mit Atomkraft produziert werden sowie um den Verbrauchszuwachs bis 2030. Diese Elektrizität soll mit erneuerbarer Energie produziert und mit Effizienzsteigerung teilweise eingespart werden. Die Lösung präsentiert Rechsteiner, der sich als scharfzüngiger SP-Politiker, Energieexperte und AKW-Gegner einen Namen machte, mit drei Szenarien:

1. Das Szenario «solar & effizient» setzt primär auf eine dezentrale Stromproduktion im Inland mit ­hohem Anteil an Fotovoltaik sowie auf strenge Vorschriften zur Reduktion des spezifischen Stromverbrauchs.

2. «Europäisch vernetzt» baut stärker auf Importe von Windstrom; der Anteil von Fotovoltaik und die Wirkung von Effizienzsteigerungen sind hier kleiner.

3. «Binnenorientiert mit Gas» ist kein «100 Prozent erneuerbar»-Szenario, denn es rechnet mit einem namhaften Anteil an fossiler Stromproduktion in inländischen WKK-Anlagen; entsprechend geringer ist der Anteil an Fotovoltaik und importiertem Windstrom.

Bekannte Fakten, neue Einsichten

Der Autor stützt seine Sicht mit einer Fülle von Informationen über Entwicklungen, Potenziale und Möglichkeiten der erneuerbaren Stromproduktion. Interessierte Laien erhalten damit einen leicht verständlichen Einblick ins Thema. Fachleuten bietet das Buch mit seinen vielen Grafiken eine handliche Zusammenfassung von bekannten Fakten, zusammengetragen aus Statistiken und Studien.

Selbst Fachkundige entdecken dabei neue Zusammenhänge. So zeigt zum Beispiel der grafische Vergleich auf ­Seite 54, dass alpine Solaranlagen in den Wintermonaten einen höheren ­Anteil Strom produzieren als Laufwasserkraftwerke; eine Information, die gegen die Förderung von Wasserkraftwerken spricht. Und der Flächen­ver­gleich auf Seite 106 lehrt, dass der Energieertrag aus Biomasse pro Quadratmeter Fläche um einen Faktor 50 geringer ist als jener aus Fotovoltaik. Das illustriert, wie unsinnig die Produktion von Agrartreibstoff ist.

Informationen sind nie wertfrei, sonst wären sie wertlos: Die Wahl der Informationen beeinflusst die Aussage. Und die Aussage – in diesem Fall «100 Prozent erneuerbar ist möglich» – bestimmt die Wahl der Fakten. Ruedi Rechsteiners Buch ist ein Parteigutachten wie die meisten Studien. Das Gute daran: Es liefert jenen Leuten und Parteien wichtige Daten und Argumente, die erkennen, dass eine Stromversorgung, die auf grenzenlosen Risiken (Atomkraft) oder begrenzten Ressourcen (fossile Energie) basiert, langfristig keine Zukunft hat.

Verdienstvoll ist, dass der Autor trotz seines Engagements für erneuerbare Energie auch auf Probleme hinweist, welche die Verstromung der Wind- und Solarkraft mit sich bringt. Dazu gehört der weiträu­mige Transport von Windstrom oder der Speicher­bedarf für die unregelmäs­sige Ernte von Solarstrom.

Stromblick verstellt Energiesicht

Das Gutachten enthält allerdings zwei Schwächen: Rechsteiner verlängert die stolzen Wachstumsraten, welche die Quersubventionierung (Einspeisevergütung) von Wind- und Solarstrom in den letzten Jahren vor allem in Deutschland bewirkte, unbesehen in die Zukunft. Solche Fortschreibungen sind fragwürdig. Denn sie lassen Rückschläge und Brüche ausser Acht, welche die stark schwankenden Marktpreise im Energiesektor nach sich ziehen. Beispiele: Die Wirtschaftskrise führte zum Einbruch der Solarstromförderung in Spanien. Oder der Abbau von Schiefergas lässt die Gaspreise einbrechen und vermindert damit die Konkurrenzfähigkeit von und die Investitionsbereitschaft in Windkraftwerke.

Zweitens verstellt die eingangs erwähnte Fokussierung auf die Stromproduktion die Sicht auf die nicht erneuerbare Energie, die Bevölkerung und Wirtschaft ausserhalb des Elektrizitätsbereichs ver(sch)wenden. In den Bereichen Verkehr und Raumwärme etwa lässt sich weit mehr nicht erneuerbare Energie sparen oder mit Solarwärme ersetzen als beim Strom.

Selbst wenn ein kleiner Teil dieser eingesparten fossilen Energie eingesetzt wird, um den Umstieg auf eine erneuerbare Stromversorgung zu flankieren, bliebe die Bilanz unter dem Strich positiv. Denn optimaler, naturgerechter und wohl auch billiger als die 100 Prozent erneuerbare Stromversorgung, die Rechsteiner anstrebt, wäre es, den gesamten Energieverbrauch zu halbieren und zu 80 Prozent mit erneuerbarer Energie zu decken.

Ruedi Rechsteiners Buch «100 Prozent erneuerbar» ist 2012 bei Orell Füssli erschienen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.05.12

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