Die verwundete Stadt

Der Eurovision Song Contest findet in Aserbaidschans Hauptstadt Baku statt – in einem Land, in dem es um die Bürgerrechte schlecht bestellt ist. Die Autorin Olga Grjasnowa hat die Stadt ihrer Kindheit besucht; sie ist ihr fremd geworden. 

Baku – vor dem Eurovision Song Contest 2012. (Bild: Jean-Marc Caimi/Redux/Redux/laif)

Der Eurovision Song Contest findet in Aserbaidschans Hauptstadt Baku statt – in einem Land, in dem es um die Bürgerrechte schlecht bestellt ist. Die Autorin Olga Grjasnowa hat die Stadt ihrer Kindheit besucht; sie ist ihr fremd geworden. 

Baku ist seit dem Mittelalter ein Melting Pot verschiedenster Kul­tu­ren, Völker und Sprachen, bewusst unentschieden zwischen Asien und Euro­pa. Auch meine Familie wanderte nach und nach in die aserbaidscha­nische Hauptstadt ein. Der russische Teil von ihr floh vor den Hungersnöten im zaristischen Russland, der jüdische vor den Pogromen im Siedlungsrayon, meine Grossmutter kam als Letzte aus Weissrussland – sie floh vor dem Holocaust. Ich wurde in Baku geboren und bin da aufgewachsen, in der sechsten Generation.

Während der sowjetischen Ära war Baku die kosmopolitischste Stadt der UdSSR – die grössten Bevölkerungsgruppen stellten Aserbaidschaner, Armenier, Russen und Juden. Die Sprache war Russisch; interkulturelle und interkonfessionelle Ehen waren erwünscht, und auch in meiner Familie mischten sich Russisch, Aserbaidschanisch, Jiddisch und Polnisch.

Baku ist heiss und windig und staubig. Die Innenstadt hat sich mit jeder Generation und jedem Regime gewandelt: Neue Gebäude werden hoch­gezogen und alte abgerissen, manchmal über Nacht. Wenn man die Stadt für ein paar Jahre verlässt, kann es passieren, dass man sie kaum wiedererkennt. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach dieser Stadt – und ein paar beständige Inseln in der Kartografie.

Florida. Das Politbüro der KP verfolgte zunächst den Plan, den südlichen Kaukasus ins «Florida» der Sowjet­union zu verwandeln. Natürlich ist das gescheitert, dennoch war die Region stets eines der beliebtesten Urlaubs­ziele für die sowjetischen Bürger und diente der russischen Literatur seit der Klassik als exotische Projektionsfläche.

Platz der Fontänen. Die Innenstadt sieht nach Zucker aus, sauber und glänzend. Über den engen Gassen hängen Lichtgirlanden, die Auslagen der überteuerten Geschäfte werden jeden Morgen gereinigt, danach widmen die gelangweilten Verkäuferinnen sich wieder dem Haarekämmen und der Maniküre. Das durchschnittliche Gehalt reicht ohnehin nicht für eine Handtasche. Alles läuft auf den zentralen Platz der Fontänen zu. Dort plätschern im Sommer mehrere Springbrunnen, und die Kinder fahren Karussell, während die Erwachsenen Eis essen und flirten.

Die Innenstadt ist übervoll, meinst mit Gruppen von jungen Männern, die aussehen, als ob sie nichts zu tun hätten. Sie haken sich ein und schauen sich gemeinsam die Frauen an. Allerdings bleibt es meistens nur beim Anstarren, für sexuelle Belästigungen gibt es gerechte Strafen, die sofort eingefordert werden.

Märtyrerallee. Die Märtyrerallee liegt hoch über der Stadt, neben einer neu erbauten Moschee und Hochhaustürmen, die entfernt an die Twin Towers erinnern, aber eigentlich Flammen darstellen sollen. Hier ist es meistens leer und still. Nur wenige Besucher wandern leise zwischen den Gräbern, und ab und an sind es streunende Hunde, die sich am ewigen Feuer wärmen. Der Ausblick auf die Bucht von Baku und die Ölfelder ist schön. Das einzig Schöne an diesem Ort. Denn hier liegen die Toten des Schwarzen Januars von 1990 begraben.

Am 15. Januar 1990 wurden russische Truppen um Baku zusammengezogen. Die Bevölkerung wurde unruhig, Strassensperren und Barrikaden wurden errichtet. Der Einmarsch sollte verhindert werden. Wenige Tage später sprengte eine Einheit des KGB die ­Radio- und TV-Stationen. Die Einwohner waren auf Krieg eingestellt. Panzer rollten durch die Innenstadt. Scharfschützen feuerten auf unbewaffnete Menschen, Panzer rollten über die notdürftig errichteten Barrikaden, über Menschen und über eine Ambulanz.

In dieser Nacht starben Hunderte. Am 23. Januar gab es eine Trauer­kundgebung für die gefallenen Märtyrer, sie wurden hier, über der Stadt, begraben. Auf dem langen Gang stösst man auch das gemeinsame Grab eines frisch verheiraten Paares, auf dem Grabstein ist ihr Hochzeitsfoto abgebildet. Daneben das Bild eines 16-jährigen Mädchens, das im Wohnzimmer seiner Eltern ermordet wurde, weil es aus dem Fenster schaute.

Viele Gräber sind mit aserbaidschanischen, russischen und jüdischen Namen angeschrieben. Manche sind namenlos geblieben. Wenig später begann man, die Toten aus den Kriegen um Bergkarabach hier zu begraben. Der Platz reichte nicht für lange.

Jungfrauenturm. Der Jungfrauenturm ist das Wahrzeichen Bakus, er ist aus Kalkstein, plump und rund und steht in der südlichen Altstadt. Viele ­Legenden kreisen um ihn und besagen, dass er vor Jahrhunderten noch vom Wasser umgeben war – das Meer sei demnach um gut 100 Meter zurück­gegangen. Die am weitesten verbreitete Legende handelt, wie so oft, von einer Jungfrau. Als sie eines Tages heiraten sollte, bat sie ihren künftigen Mann, ­einen Turm zu bauen und mit der Trauung so lange zu warten, bis dieser fertiggebaut sei. Als es so weit war, stürzte sie sich vom Turm ins Meer. Seitdem nennt man diesen Turm «Jungfrauenturm», und angehende Bräute legen hier ihre Sträusse nieder.

Boulevard. Der Boulevard ist eine lange Flaniermeile am Ufer des Kaspischen Meeres, umrahmt von Jazzclubs und Restaurants, in denen Lamm und Stör auf langen Spiessen gegrillt werden. Sobald die Sonne sich nicht mehr in die Haut und die Kleidung brennt, ­gehen die Menschen auf die Strasse, um zu spazieren, Schwarzmarktgeschäften nachzugehen oder zu plaudern. Vor ihnen schimmert gräulich das Meer, auf dem Wasser schwimmt zuweilen ein feiner Ölfilm. Von hier aus fahren jede halbe Stunde zwei Ausflugsdampfer ­hinaus auf die offene See und drehen nach einer Viertelstunde wieder um.

Herrschaft. Das Alijew-Regime hat sich in das Stadtbild eingeschrieben. Die Gesichter der Präsidentenfamilie sieht man überall, ihre überdimensionalen Porträts (Vater und Sohn, Vater im Smoking, der Sohn alleine oder samt Ehefrau, der liebevolle Grossvater mit seinen Enkeln) hängen überall – und wenn mal kein Foto in der Nähe ist, dann steht man mit Sicherheit gerade in einer Strasse oder einem Gebäude, das nach ihnen benannt wurde oder ihnen gehört.

Peripherie. Armut.

Bazar. Auf dem Bazar muss man handeln, dann bekommt man fast alles mehr oder weniger legal: gackernde Hühner neben frischem Brot, Berge von Wassermelonen, Kaviar und ­früher die eine oder andere Waffe. Den Bazar wird kein Supermarkt ver­drängen, in den letzten Jahren wurden jedoch deutsche Bäckereien und ­deutsche Apotheken populär. Besonders die Wortkombination «deutsch» und «Apotheke» wirkt auf zahlungskräftige Kranke sehr beruhigend, sämtliche dort zum Verkauf stehenden Medikamente kommen tatsächlich von hier, aber das Personal ist nicht mal in der Lage, die Beipackzettel zu lesen.

Tee. Ohne Tee geht gar nichts. Es ist das Nationalgetränk in Aserbaidschan und wird überall, zu jeder Tages- und Nachtzeit, getrunken. Am liebsten in einer Caychana (Teehaus), die auf dem Land oft von Männern frequentiert wird und in denen das Getränk in Kannen und der Würfelzucker kiloweise serviert werden. In der Caychana wird stundenlang Backgammon gespielt und über Politik geredet. Zumindest in Baku erobern die Frauen sich langsam diese Räume.

Ziguli. Werden von reichen Sprösslingen gekauft und auf eine möglichst spektakuläre Art in der Innenstadt zu Schrott gefahren.

Gäste. Der Stellenwert des Essens kann gar nicht grösser sein. Es ist die Staatsreligion. Sobald sich Gäste ankündigten, roch unser Haus nach Plow, Dolma und Pahlawa. Man sitzt stunden- und manchmal auch tagelang zusammen am Tisch, begleitet von unzähligen Gängen und Trinksprüchen. Gastfreundschaft ist eine angenehme Pflicht, doch den Gast hungrig nach Hause gehen zu lassen, eine Sünde. Die aserbaidschanische Küche wurde von zahlreichen kulturellen Einflüssen aus Armenien, Georgien, der Türkei, Iran, Russland etc. geprägt. Die Küche meiner Mutter ist zwar eine Mischung aus kaukasischen, russischen und jüdischen Gerichten, doch die, die sie am liebsten kocht, sind die aserbaidschanischen.

Erdöl. Die beliebtesten Handels-güter in Baku sind Erdöl und Klatsch, man geht davon aus, dass beides nie versiegen wird. Das Erdöl brachte den Reichtum nach Baku. 1872 begann die Ölför­derung und Baku boomte. Die ersten Ölbarone, unter ihnen auch die Brüder Nobel, bauten spektakuläre Paläste in der Innenstadt, während die Arbeiter unter den erbärmlichsten Bedingungen an den Rändern der Ölfelder hausten.

Der Schriftsteller Essad Bey, alias Lev Nussibaum, beschrieb 1930 in seinen vermeintlichen Memoiren «Öl und Blut im Orient» die Lage: «Die Öltürme am Kaspischen Meer bilden einen Staat für sich, der besonderen Gesetzen unterstellt ist und eine besondere Auf­fassung von Gerechtigkeit hat. Die Gesetze der Ölfelder sind ungeschrieben, werden aber mehr geachtet als die geschriebenen Gesetze des Staates. Der oberste Herr der Türme ist der Inge­nieur, der Macht über Leben und Tod seiner Untergebenen hat. Nur wenige können Ingenieur auf den Ölfeldern werden, dazu muss man geboren sein. Keine Kenntnis und kein Studium vermögen den Mann richtig zu erziehen, wenn er nicht die innere Veranlagung zum autokratischen Herrscher, der mitunter auch Scharfrichter sein muss, besitzt. Er muss es verstehen, nicht nur das Öl zu schürfen und es vor Brand zu schützen, sondern auch irgendeinem vermeintlichen Brandstifter, dessen Schuld gar nicht bewiesen zu sein brauchte, einen Blechtrichter in den Mund zu stecken und ihm so lange Rohröl oder Petroleum in den Schlund zu giessen, bis die Gesichter aller Anwesenden grau vor Schrecken wurden. (…) Dieses Regime war im Grunde ein Zuchthausregime.»

Es hat sich, was das angeht, nicht sehr viel verändert. Der Reichtum, ­ungleich verteilt, kehrte in den späten 1990er-Jahren wieder nach Baku zurück. Glitzernde Hochhaustürme und teure Markenshops wurden gebaut. Und die ­Strassen wurden von dunklen Jeeps übernommen.

 

Gewalt hinter der schönen Kulisse

Aserbaidschans Führung nutzt den Eurovision Song Contest (ESC), um das Land am Kaspischen Meer vor der Weltöffentlichkeit als demokratische und moderne Nation zu ­zelebrieren. In Tat und Wahrheit weist Aserbaidschan gravie­­rende ­Demokratie- und Menschenrechtsdefizite auf. Das Regime um Prä­sident Ilham Alijew kontrolliert ­Politik und Wirtschaft nach Gutdünken, eine faire Rechtsprechung existiert nicht und Regimegegnern begegnet der autoritäre Führungsclan zuweilen mit Gewalt.
Eine unschöne Vorgeschichte hat auch der ESC: Den Prestige­bauten rund um den Musikwettbewerb mussten alte Häuser weichen; die dort ­lebenden Menschen wurden zum Teil gewaltsam aus ihren Wohnungen vertrieben. Auch vor dem Start des ESC ist es in Baku zu Ausschreitungen gekommen. Polizisten gingen massiv gegen ­Regimegegner vor, die auf einem Protestmarsch durch das Stadtzentrum mehr Freiheit forderten.
Der ESC endet am Samstag, 26. Mai, mit dem grossen Finale. Das Schweizer Duo «Sinplus» ist am vergangenen Dienstag in einem der beiden Halbfinale ­erwartungsgemäss ausgeschieden. leu

 

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 25.05.12

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