Die pinkfarbene Zunge streckt mir einen weiss belegten Tumor entgegen. Wie Schimmel ist der Krebs über das Fleisch gewuchert. «Natural American Spirit» steht in fetten Lettern darüber. Mit meinem rechten Daumen streiche ich über die Wörter, die spitzen Ecken der Kartonschachtel bohren sich in meine Handfläche.
Langsam, langsam schiebe ich den verbogenen Deckel hoch.
Die Angst
Freitagnachmittag, zweieinhalb Stunden zuvor. Ich stehe vor dem Ärztehaus an der Hamburger Oper und halte mir den Bauch. Diese Krämpfe, diese verfluchte Nervosität! Was geschieht hier gleich mit mir? Wie wird es danach sein? Werde ich noch wissen, was das ist, eine Zigarette? Ruhe bewahren. Ich nehme noch einen Zug von meiner Kippe.
Mach kein grosses Ding aus deiner letzten, hat mein Vater mal gesagt. 40 Jahre lang hatte er mehr als ein Päckchen am Tag weggequalmt. Bis vor zehn Jahren seine Firma ein kostenloses Rauchfrei-Seminar organisierte. Am Abend legte mein Vater – der prüfende Blick meiner Mutter lag schwer auf seinem Rücken – sein Zigarettenpäckchen in den Küchenschrank. Dort wartet es bis heute.
Meine Zigarette macht es nicht mehr lange. Ich schreibe einer Freundin auf Whatsapp:
«Ich bin nervös.»
20 Sekunden vergehen.
«Que pasa, amor?»
«Ich mach gleich eine Rauchfrei-Hypnose…»
«Oh! Ich kenne imfall drei Leute, die so aufgehört haben!!»
Also gut. Ich schnippe die Kippe auf die Strasse und wuchte meine schweren Beine ins Ärztehaus. Schlurfe über den glatten Marmorboden in den fünften Stock hinauf, vorbei an einem dicken Schild mit einer durchgestrichenen Zigarette darauf. Jaja, weiss ich doch, deshalb bin ich ja hier, verdammt!
Der Plan
Denise Humbert zieht mich mit einem festen Händedruck in ihre Praxis. Kurze blonde Haare, blaue Augen, ein sanftes Gesicht ohne Kanten, kein Anecken möglich. Ihr Lieblingslied sei «Clocks» von Coldplay, hat sie in einem Interview mal gesagt. Sie führt mich in den Behandlungsraum. Hohe Decke, weisse Ikea-Möbel und hinten die Liege aus schwarzem Leder, wie es sich gehört.
«Eine Erfolgsgarantie gebe ich nicht – das hatte ich Ihnen ja geschrieben»
Wir reden über sie. Vor neun Jahren hat sich die 47-jährige Heilpraktikerin auf Hypnose spezialisiert. Diverse Weiterbildungen hat sie in Basel absolviert. Erfolgsquote bei den Rauchern? Kann sie nicht sagen; sie habe zu viel um die Ohren, um allen Patienten hinterher zu telefonieren, sagt sie lachend. Aber so, wie sie es am Rande mitbekomme, laufe es bei den meisten gut. «Eine Erfolgsgarantie gebe ich aber nicht – das hatte ich Ihnen ja geschrieben.» Das hatte sie und ich mir direkt danach eine angesteckt.
Wir reden über mich. Ich will aufhören, weil mir vom Nikotin der Magen brennt. Weil ich stinke. Und weil ich keine schimmlige Zunge haben will, keine schimmlige Lunge – es soll einfach rein gar nichts an mir schimmeln! Ich rauche seit fünf Jahren, zwei davon immerhin nur E-Zigarette. Mit 20 Jahren nahm ich meinen ersten Zug voll Teer. Keine Jugendsünde, nur die reine Dummheit.
Die Hypnosetherapeutin erklärt die nächste Stunde: Während ich es mir nachher mit geschlossenen Augen auf der Liege gemütlich machen darf, wird sie mich mit Worten in einen hochkonzentrierten Zustand versetzen, Trance genannt. Für mich wird es sich wie ein Halbschlaf anfühlen. Humbert wird viel und langsam mit mir reden und versuchen, meinem Unterbewusstsein zu sagen: Zigaretten? Brauchst du nicht. Und dann werde ich nach 45 Minuten wieder aus ihrer Praxis schreiten. Als Nichtraucherin. So unser Plan.
«Ihnen muss wirklich bewusst sein: Zaubern, das kann auch ich nicht», sagt die Hypnosetherapeutin und zeigt ein butterweiches Lächeln. Ich weiss nicht – rauchfrei in 45 Minuten? Das klingt für mich schon ziemlich magisch.
Der Zauber
Ich lege mich auf die lederne Liege und sie zieht eine graue Wolldecke über meinen Körper. Wellness-Musik plätschert durch den Raum. Ich schliesse meine Augen und Denise Humbert beginnt mit ihrer Arbeit.
Ich spaziere durch den Wald, einen Ort, den wir vorhin bestimmt haben, wo ich mich entspannen kann. «Und du spürst, wie es sich anfühlt in diesem Wald – als Nichtraucher», sagt Humbert gedämpft und monoton.
Dass ich während der Hypnose immer wieder Lust aufs Rauchen bekomme, ist ja hoffentlich völlig normal?
Und immer wieder: «Rauchen hat in deiner Zukunft keinen Platz mehr.»
Oder: «Den Versuch, wieder zu rauchen, wirst du gar nicht erst machen.»
Und: «Du bist jetzt Nichtraucher.»
Meine Gedanken schweifen ab. Wie viel Bargeld habe ich nach dem hier eigentlich noch? Wann fährt mein Zug nach Basel nächsten Samstag? Und wieso bin ich eigentlich so müde? Das ist die Trance, wird mir Humbert nachher sagen, und damit völlig normal. Dass ich in der Hypnose immer wieder Lust aufs Rauchen bekommen habe, will ich für mich behalten. Ist ja hoffentlich auch völlig normal?
Humbert zählt nach 45 Minuten langsam auf drei und ich öffne meine Augen.
«Und, wie gehts Ihnen?»
«Gut, glaube ich. Aber es war schon…»
«Eigenartig?»
«Ja, schon. Als hätte ich mich unter Kontrolle und irgendwie auch nicht.»
Humbert lächelt und nickt. Ich lasse 170 Euro in bar auf ihrem Schreibtisch zurück.
Der Zombie
Der Händedruck, der Marmor, die Strasse – und die Zigarette? Ich greife nach dem Zigarettenpäckchen in meiner Jackentasche und quetsche, bis sich die Glimmstängel biegen. Wie ein Zombie trample ich über Zigarettenstummel Richtung Jungfernstieg, und ich quetsche. Zwei junge Frauen mit viel zu grossen Einkaufstüten rauchen vor dem H&M, und ich quetsche.
«Na, wie wars? Ich nehme an, du rauchst schon wieder?»
Ich quetsche bis zur Henri-Nannen-Schule am Hamburger Hafen und lasse mich bei einem Spielplatz auf etwas fallen, was wie eine Parkbank aussieht – aber es ist ein tiefes Loch. Ich bin unendlich enttäuscht von mir. Mein Kopf ist schwer, vernebelt vom blauen Dunst, den ich mir jetzt gerne in die Lunge ziehen würde. Und mein Portemonnaie? Leer. Ich empfinde keine Abneigung, keine Gleichgültigkeit gegenüber den Kippen. Da ist nur Lust – und Scham: Wenn ich mir jetzt eine anstecke, bin ich Ronja, die rauchende Versagerin, die in ihrer Verzweiflung 170 Kröten verbrannt hat.
Die Liebe
Ich hole die gequetschte Zigarettenpackung aus meiner Jackentasche, drücke sie etwas zurecht. Langsam, langsam schiebe ich den verbogenen Deckel hoch. «Maybe tomorrow» singt Kelly Jones von den Stereophonics mit seiner Schleifpapier-Stimme durch die Ohrstöpsel. Wie recht du hast, Kelly – hast mir mal ’ne Kippe?
Riecht gleich, schmeckt gleich, alles gleich. Ich tippe die Nummer meines Freundes in mein Handy.
«Na, wie wars? Ich nehme an, du rauchst schon wieder?»
«Woher willst du das wissen?»
«Weil ich dich kenne, du Huhn. Du bist nicht der Typ für so was.»
«Hast ja recht, Mensch…»
«Es klingt so, als wärst du einfach nur traurig.»
«Tja, hmpf, was soll ich sagen? Ich vermisse dich.»
Ich erzähle ihm, was geschah und eben nicht geschah. «Du hattest doch mal eine E-Zigarette, hat das nicht geklappt?», fragt er irgendwann. Doch, voll gut eigentlich. Und meinem Magen, meiner Lunge, den beiden gings auch viel besser damit. Bis mir mein Dampfkessel am Züri Fäscht 2016 in ein Dixi-Klo fiel. «Na, dann hol dir wieder so ein Teil, ist eh viel billiger als bei uns!»
Nach dem Ich-liebe-dich-auch google ich nach Dampfer-Läden in Hamburg. 1500 Meter entfernt schon der nächste. Mein Feuerzeug küsst den Tabak.
Morgen dann.