Durch die Wand sehen

Früher wurden Strassen kartographiert. In Zukunft soll auch das Innere von Gebäuden vermessen werden. Das bringt erhebliche datenschutzrechtliche Probleme mit sich.

(Bild: IndoorAtlas)

Früher wurden Strassen kartographiert. In Zukunft soll auch das Innere von Gebäuden vermessen werden. Das bringt erhebliche datenschutzrechtliche Probleme mit sich.

Grundbücher, Strassenregister, Landkarten, Google Maps – es gibt es heutzutage kaum ein Gebiet, das nicht kartographiert wäre. Für sein Projekt Street View liess Google abertausende Fahrzeuge durch die Strassen fahren. Satelliten kreisen um den Planeten und schicken in Echtzeit Signale auf die Erde, Drohnen nehmen hochauflösende Luftaufnahmen auf. Allein, die Welt hinter den Gebäuden blieb den Beobachtern bislang verborgen. Das könnte sich nun ändern. Eine Industrie schickt sich an, auch das Innerste unserer Räume zu vermessen.

Die finnische Firma IndoorAtlas hat vor Kurzem erst herausgefunden, dass alle Gebäude einen einzigartigen magnetischen «Fingerabdruck» besitzen. Der Grund: Der Stahl, der in Gebäuden verbaut ist, verzerrt das Magnetfeld der Erde. Der unterschiedliche Stahlgehalt und die natürlichen Schwankungen des Magnetfelds an verschiedenen Standorten machen jedes Gebäude «einzigartig». Und diese Begebenheit machten sich die Entwickler zunutze.

Zahlen für die Privatsphäre

Eine App nutzt den in Smartphones installierten Magnetsensor, der die Schwankungen des Erdmagnetfelds erfasst und aufzeichnet. Aus den so gesammelten Daten lassen sich Pläne erstellen, die bis auf knapp zwei Meter genau sind. Der Vorteil dieser Lösung ist, dass die Applikation ohne GPS auskommt. In der Stadt ist die GPS-gestützte Navigation kein Problem. Doch in Gebäuden wird das Signal häufig gedämpft. Der Nachteil ist, dass es in Holz- oder Steingebäuden nicht funktioniert. IndoorAtlas scannt dagegen das Innere: Büros, Treppen, Wände. «Wir können anhand der neuen Wege, die die Leute laufen, herausfinden, ob ein Geschäft seine Regale verrückt hat», sagt Wibe Wagemans, Chef von IndoorAtlas.

Auf dem Video ist zu sehen, wie ein Kunde in einem Einkaufsgeschäft den Suchbegriff «Nüsse» eingibt. Ein blauer Punkt markiert den aktuellen Standpunkt, orange Balken die Regale. Binnen weniger Sekunden erkennt das Programm, wo die gewünschte Ware ist. Die Technologie eignet sich perfekt, um Käufer zu definierten Abschnitten der Warenregale zu lotsen. Die Werbebranche frohlockt bereits. Die chinesische Suchmaschine Baidu hat im September 10 Millionen Dollar in das finnische Start-up-Unternehmen investiert. IndoorAtlas verweist darauf, dass ihre Technik im Grunde nichts anderes tut, als wenn ein Kunde durch die Supermarktregale läuft. Das stimmt zwar. Doch wie sieht es mit privaten Wohnungen aus?

«Der magnetische Fingerabdruck wird offline errechnet», sagt Andrea Bottino, Professor für Computerwissenschaft an der Politecnico di Torino, im Gespräch mit der TagesWoche. «Wenn die App jedoch wie bei einer Lokalisierungsdienst dazu genutzt wird, die Position und Navigation im Inneren zu managen, können Nutzeraktivitäten aufzeichnet werden.» IndoorAtlas misst und speichert den magnetischen Fingerabdruck in einer Cloud. Wer will, dass die Daten privat bleiben, muss im Monat 99 Dollar zahlen. Wer es der Öffentlichkeit zugänglich macht, zahlt keine Gebühr – wohl aber mit seinen Daten.

3D-Modell der Realität

Die Vermessung des Innern ist für die Werbeindustrie eine Verheissung. Der Mensch hält sich gut 90 Prozent seines Lebens in Gebäuden auf. Zu Hause, in Büros, U-Bahnen, Einkaufszentren. Die Verlockung, die Leute in die «richtigen» Bahnen zu lenken, ist gross. Sogenannte Beacons senden schwache Bluetooth-Signale aus, die die Nutzer in Echtzeit erreichen. An Flughäfen bieten Airlines ihren Kunden am Passieren der Sicherheitsschleuse ein Upgrade in die Business Class an. Die Wifi-basierte Navigation in öffentlichen Gebäuden ist technisch machbar, hat aber Tücken. Es müssen zusätzliche Access Points installiert werden, was teuer und aufwendig ist. Surfen zu viele im W-LAN, kollabiert das System.

Google treibt mit seinem Project Tango eine Vermessung der Räumlichkeiten voran. Mit Smartphones und Tablets, die mit 2 Kameras und diversen Sensoren ausgestattet sind, lassen sich Umgebungen dreidimensional erfassen und verarbeiten. Bereits heute bietet die Sensorik der Project Tango-Tablet eine sehr präzise Positionsbestimmung in einem Raum. Ohne GPS, nur mithilfe von Sensoren und Kameras, werden Abweichungen von unter einem Prozent erreicht. Die bisherigen Resultate sind erstaunlich präzise. Das Google-Handy scannt alles in 3D. Pro Sekunde sammelt das Smartphone das Ergebnis von 250’000 Messungen – es ist Big Data. Diese Datenpunkte werden in Echtzeit in ein 3D-Modell der Realität verwandelt.

Google hat bereits Informationen, wer seine Nutzer sind und wo sie sich aufhalten. Und auch wohin sie sich bewegen (Google Now). Der Internetkonzern hat öffentliche Strassen digitalisiert (Google Street View) und auch einige Gebäude wie den Hongkonger Flughafen bereits kartiert. Mit dem Kauf des Thermostat-Herstellers Nest will der Konzern Daten aus den Haushalten sammeln. Nest kündigte jüngst an, dass die Daten an Google weitergegeben wären. Da wäre es nur logisch, wenn auch das Tango-Tablet die Innenansichten seiner Nutzer liefern würde.

Grosse Mengen sensibler Daten

Im Internet der Dinge, wo alle möglichen Objekte mit Sensoren ausgestattet werden, laufen die Informationen wie in einem Durchlauferhitzer zusammen – aus statischen Gebäuden werden dynamische Objekte. «Die Welt wird unheimlich optimiert», sagte Simon Thomson, Marketingdirektor des Softwareherstellers ESRI, gegenüber der New York Times. «Das Wissen über Inneres wird eine Ressource sein. Krankenhäuser können ihre Ausstattung besser managen. Und Stadien wissen, wo sie ihre Zapfanlage aufstellen müssen. ESRI will herausfinden, wie sich Leute in Gebäuden bewegen. Daraus lassen sich riesige Datenströme generieren und Voraussagen über das Kaufverhalten treffen.

In einem Fall zeichnete ESRI die Bewegungen von Kunden eines Einkaufsgeschäfts in Melbourne mit ausrangierten Jeans auf. 22 Prozent der Leute, die den Laden betraten, drehten ab. Zwei Prozent gingen in die Abteilung mit den Jeans. Dieses Wissen zu besitzen, ist für den Handel Gold wert. Denn im Gegensatz zu Online-Shops wissen Geschäftsinhaber kaum etwas über das Kaufverhalten ihrer Kunden. Indoor Analytics heisst die neue Zauberformel. «Warum an der Tür stoppen?», war ein Vortrag der Münchener ESRI-Filiale überschrieben.

«Smartphones können eine grosse Menge sensibler Daten sammeln und speichern», sagt Computer-Experte Bottino: «Dagegen werden Bedenken für die Sicherheit und Privatsphäre angemeldet. Die Aufzeichnung von Aktivitäten und kontextbezogener Informationen können persönliche Informationen wie Gesundheitszustand und sexuelle Orientierung verraten. Der Missbrauch von Ortsangaben kann von den Nutzern nicht verhindert werden.»

Die Firma Micello hat bereits über 50’000 Gebäude mit einer Gesamtfläche von 350 Quadratkilometern kartiert – eine Fläche etwas grösser als der Kanton Schaffhausen. Das nimmt sich gemessen an der Erdoberfläche als eine kleine Fläche aus. Doch wenn man bedenkt, welchen Wert diese Informationen haben, erscheint die Relation in einem anderen Licht.

«Die Ortsangabe ist nicht mehr rein Motto für Immobilienmakler – es ist ein Imperativ für die Mobilindustrie, was Konsumenten, Hersteller und Vermittler betrifft», sagt Mansour Raad, Software-Entwickler bei ESRI, auf Anfrage: «Die Ortung wird über alle möglichen Informationen getaggt, die kraft der allgegenwärtigen ortungsfähigen Geräte übertragen wird. Wir haben die Technologie, den Ort von jedem Baum auf der Welt zu speichern.»

Nächster Artikel