Versicherungsgutachter und praktizierende Ärzte haben unterschiedliche Rollen – sie sollten nicht vermischt werden. Das fordert ein Psychiater, der in seiner Praxis erlebt, wie Angestellte gewinnorientierter Unternehmen immer stärkeren Einfluss auf die Beurteilung und Behandlung seiner Patienten nehmen.
Immer häufiger erlebe ich peinliche Erfahrungen mit sogenannten Versicherungsmedizinern, die in Dienste einer Versicherung im Kontakt zu Patienten den Arzt «raushängen». Sie sagen Dinge wie: «Ich verstehe Sie, möchte nur das Beste für Sie.» Doch gleichzeitig vertreten sie knallhart die Interessen der Versicherung, deklarieren dies aber vor dem Patienten nicht. Dass sich hier ein Konflikt zeigt, wird in der letzten Zeit zunehmend erkannt. Ich erwähnte an anderer Stelle bereits früher die fragwürdige Rolle gewisser Gutachterinstitute. Eine Lösung für diesen Konflikt zeichnet sich aber noch nicht ab.
Bei der Ausbildung zum Arzt liegt der Fokus eigentlich immer auf der Rolle, in der man den Patienten hilft, wieder gesund zu werden. Das gipfelt im Eid, den man am Schluss des Studiums ablegt. Auch wenn dieses Gelöbnis in jedem Land und zu jeder Zeit wieder etwas anders tönt, bleibt doch der Kernsatz «zum Nutzen der Kranken» ärztlich tätig zu sein, im Gelöbnis erhalten. Dies macht den Arztberuf so weit besonders, dass er eine gewisse Unabhängigkeit erfordert, damit man gemäss dem Gelöbnis handeln kann.
Gutachter gegen «Gefälligkeitszeugnisse»
Diese Unabhängigkeit hat der praktizierende Arzt, der Arzt in einem Spital oder einer Klinik, nicht aber der Arzt im Dienst einer gewinnorientierten Organisation wie einer Versicherung, womit wir beim erwähnten Konflikt sind. Dieses Problem gilt übrigens auch für die Ärzte, die nicht in der neutralen unabhängigen Forschung tätig sind, sondern in Forschungsprojekten, die von Pharmafirmen finanziert werden.
In meiner Rolle als praktizierender Psychiater muss ich häufig Zeugnisse schreiben. Sehr oft geht es dabei um die Arbeitsfähigkeit. Diese ist bei einer Taggeldversicherung beziehungsweise bei der Invalidenversicherung (für Unfälle bei der Suva) versichert. Diese Versicherungen sind auf Berichte der behandelnden Ärzte angewiesen, um bestätigt zu bekommen, dass der Versicherte Recht auf Leistungen der Versicherung hat.
Die «Berufskollegen» von den Versicherungen schreiben mir als behandelndem Arzt vor, wie ich meine Patienten zu behandeln habe.
Früher ist man davon ausgegangen, dass die behandelnden Ärzte zuverlässig und unbestechlich sind. Heute ist es umgekehrt. Es heisst in Gerichtsurteilen bereits, dass man als behandelnder Arzt nicht neutral sei und – überspitzt formuliert – fast nur Gefälligkeitszeugnisse schreiben könne. So erlebe ich es immer häufiger, dass auf meine Atteste und Berichte an die Versicherung eine Aufforderung zum Besuch beim Versicherungsarzt folgt, der dann ein Gutachten schreiben muss, in dem er darlegt, wie einleuchtend der Bericht des behandelnden Arztes ist und ob tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit vorliegt.
Diese «Berufskollegen» mischen sich dabei immer häufiger auch in die Diagnostik und Behandlung ein. So schreiben sie mir zum Beispiel vor, depressive Patienten einen Fragenbogen ausfüllen zu lassen und ihnen Antidepressiva zu verschreiben, was ich beides aufgrund meiner wissenschaftlichen Überzeugung nicht mache.
Was sind das für Ärzte, diese Versicherungsmediziner? Die Interessengemeinschaft Swiss Insurance Medicine schreibt: «Versicherungsmedizin ist Teil der Sozial- und Präventivmedizin. Sie ist die Lehre von den Beziehungen zwischen kranken, verunfallten oder einen Versicherungsantrag stellenden Personen, den medizinischen Leistungserbringern und den Versicherungsunternehmen.» Die meisten waren normale praktizierende Ärzte und sind teilweise weiter in der Praxis tätig – was für Patienten, die versicherungsmedizinisch untersucht werden müssen, besonders verfänglich ist.
Trennung schon im Studium
Die Tendenz geht aber in die Richtung von Gutachteninstituten, deren Versicherungsmediziner ausschliesslich versicherungsmedizinisch tätig sind. In Basel gibt es mindestens ein solches Institut, daneben sind weitere praktizierende Kolleginnen und Kollegen teilweise oder vollzeitlich in diesem Bereich tätig.
Mein Lösungsvorschlag ist ganz einfach. Ich erkenne, dass medizinische Kenntnisse erforderlich sind, um ärztliche Berichte prüfen zu können. Es kann aber nicht sein, dass diese Aufgabe Ärzten übertragen wird, die dazu ausgebildet sind, im Dienste der Kranken zu handeln. Es soll darum verboten werden, gleichzeitig behandelnder Arzt und Versicherungsmediziner zu sein oder als solcher zu arbeiten. Ausserdem sollte geprüft werden, ob sich bereits im Verlauf des Medizinstudiums die Weichen stellen liessen. Wer die versicherungsmedizinische Richtung einschlagen möchte, könnte dies nach dem Bachelor tun, so dass es nie zu dieser verheerenden Mischung Therapeut–Versicherungsmediziner kommen kann.