Ein erster und ein zweiter Blick

«Girls» heisst das Bild, das vor dreissig Jahren einen Fotopreis erhalten hat. Es ist in der Wohnung des Fotografen entstanden.

Töchterchen Sara bettet seine Puppe vor ungewöhnlicher Kulisse. (Bild: Kurt Wyss)

«Girls» heisst das Bild, das vor dreissig Jahren einen Fotopreis erhalten hat. Es ist in der Wohnung des Fotografen entstanden.

Dieses Bild gewann 1983 im internationalen Nikon-Wettbewerb unter 45 000 Einsendungen den 3. Preis. Warum? Die Laudatio haben wir nicht, also müssen wir uns selbst Gedanken machen. Besteht der Clou aus dem komponierten, also intendierten Gegensatz zwischen der mächtigen Frauenfigur und dem kleinen Wesen mit seinem Puppenwägelchen?

Zu beidem lässt sich noch mehr sagen. Zuerst zur Frauenfigur: Es stammt vom fotorealistischen Maler John C. Kacere (1920–1999). Von ihm heisst es, dass sein Thema die weibliche Mittelpartie (the midsection of the female body) gewesen sei, die er seit seiner Erfindung 1969 immer wieder überlebensgross gemalt, also zu seinem Lebensmotiv gemacht habe. Dann zum kleinen Wesen: Es ist die Tochter des Fotografen, Sara.

Das Bild im Bild

Ist das alles? Der nur so gesehene Gegensatz, der ja auch als Gegensatz zwischen Verführerischem und Unschuld umschrieben werden kann, ist etwas platt. Nicht platt und wohl den Preis ausmachend ist die gegensätzliche Dynamik der Blicke. Wir (wohl nicht nur die Männer) schauen unwillkürlich und unvermeidlich zuerst auf den halb verhüllten, halb enthüllten Frauenkörper. So will es ja auch das Bild im Bild haben. Der zweite Blick gilt dann dem Mädchen, das überhaupt keinen Blick für das Bild, sondern nur für das hat, was im Puppenwagen liegt und wir gar nicht sehen.

Da wir letztlich aber mit dem dritten Blick beide sehen, die zwei weiblichen Wesen unterschiedlichen Alters, betitelte der Fotograf das Bild mit «Girls». Das fotografierte Bild entstand 1974 in der Wohnung des Fotografen, und man kann sich fragen, warum er (und seine Frau Barbara) das gemalte Bild überhaupt aufgehängt haben. Die beiden waren Mitglieder des ad hoc entstandenen Art-Clubs «Pro Po und Co.», der sich an der 4. Art dieses Bild gekauft hatte und es dann unter seinen Mitgliedern zirkulieren liess. Und Kacere war eine amerikanische Berühmtheit …

Nicht einfach ein Fudi-Foto

Das Motiv von Kaceres Kunst ist aber nicht besonders originell. Origineller ist sicher die Machart. Aber es bleibt der Zweifel, dass die Attraktivität seiner Bilder doch etwas stark von den realen Objekten, den Frauenkörpern, abhängt. Immerhin ruht dieses Bild im Bild in sich selbst und dient nicht irgendeinem Werbespot, ist nicht einfach ein Fudi-Foti.

Es ist gerade dreissig Jahre her, da hat eine sehr vulgäre Variante des Motivs 1982 für Rifle-Jeans geworben. Der nackte Hintern allein genügte da nicht, der Frauen-Po musste noch von zwei Männerhänden umfangen sein. Prompt wurde das Plakat in allen Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft – ausser Graubünden und Basel – verboten und erreichte damit genau die Beachtung, die es anstrebte. Eine Aufmerksamkeit, die, wie diese Zeilen zeigen, bis heute nachwirkt.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 28.12.12

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