Vor zwanzig Jahren liess eine Forschergruppe am Fraunhofer-Institut in Erlangen mit ihrem neuen Verfahren quasi eine Dampfwalze über die CD rollen. Die komprimierten Audiodateien erhielten den Namen MP3 – und erneuerten die Art, wie wir heute Musik hören.
Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, Mittelfranken – das klingt nicht nach Silicon Valley. Aber dort, in der bayrischen Kleinstadt Erlangen, hat seit Mitte der 1980er-Jahre ein Team um den Elektrotechniker Karlheinz Brandenburg an einem Verfahren zur Datenkomprimierung gearbeitet. Dieses hat nicht nur unsere Hörgewohnheiten neu definiert, sondern auch den Wert, den wir Musik beimessen. Den materiellen wie den ideellen.
Brummte vor zwanzig Jahren noch der Handel mit Hifi-Kompaktanlagen mit CD-Player, kommt die Musik, die wir hören, heute von der Festplatte, dem Smartphone oder direkt vom Streaming-Anbieter. Platten und CDs, die früher Wandregale füllten, finden heute auf dem Telefon Platz. Musik ist ständig verfügbar und für den Hörer um ein Vielfaches billiger geworden.
Möglich gemacht hat dies ein Verfahren zur Kompression von Audiodateien, an dem Brandenburgs Team zehn Jahre lang tüftelte, und das am 14. Juli 1995, vor zwanzig Jahren, nach einer Umfrage im Institut seinen endgültigen Namen erhielt: MPEG Audio Layer 3, kurz MP3.
Verdünntes Klangbild
«3» deshalb, weil auch anderswo an der Komprimierung von Video- und Audiodateien gearbeitet wurde, vorab mit dem Ziel, Filme auf die Datenrate einer CD runterzudrücken. MPEG-1 wurde 1991 für die Video-CD vorgestellt und sogleich zum Ladenhüter, weil drei Jahre später das weiter entwickelte Komprimierungsverfahren MPEG-2 mit einer zehnfach höheren Datenrate verfügbar war und als Standard für das DVD-Format verwendet wurde.
Brandenburgs Team gelang es mit dem MP3-Format, Audiodateien auf knapp zehn Prozent ihrer ursprünglichen Datenmenge zu komprimieren – und zwar, indem möglichst alles aus einem Musikstück rausgepresst wurde, was das menschliche Ohr nicht oder kaum zu hören imstande ist. Das sind besonders hohe oder tiefe Töne, die leisen Arrangements hinter dominanten Leittönen sowie voluminöse Zisch-, Rausch- und Dröhnlaute, die zwar nicht die tragenden Melodien eines Stücks bilden, jedoch zum umfassenden Klangbild gehören. «Verlustbehaftet» werden diese Komprimierungsverfahren denn auch genannt. – Je tiefer die Datenrate, auf die ein Musikstück runterkomprimiert wird, desto grösser die Menge an fürs Hörerlebnis verlorenen Klangfacetten.
Der erste MP3-Song
Ein Schlüsselsong für jene Gründerjahre der Datenkomprimierung war Suzanne Vegas Hit «Tom’s Diner», der in der Originalversion als reine A-Cappella-Version produziert wurde. Brandenburg, der vom Song begeistert war, benutzte «Tom’s Diner» als Richtschnur: Weil ausser Vegas Stimme nichts zu hören und infolgedessen die Diskrepanz zwischen dem produzierten Ausgangsstück und den psychoakustischen, fürs Ohr tatsächlich hörbaren Frequenzen und Spuren entsprechend klein war, bot der Song für die MP3-Entwickler die ideale Richtschnur, um das Komprimierungsverfahren zu testen und entsprechend zu überarbeiten.
Als «Mutter von MP3» kam «Tom’s Diner» zu unverhofften Weihen in der Entwicklung der Datenkompression. Aber der Erfolg des Formats hing nicht nur von den algorhythmischen Tüfteleien in Erlangen ab. Er profitierte von zeitgleichen Entwicklungen.
In den Neunzigerjahren drangen Personal Computer in alle Haushalte und konnten mit Dateimaterial gefüllt werden. Zudem wurde das Internet zunehmend für den Privatgebrauch anschlussfähig. Damit waren sowohl Speicherplatz als auch Übermittlungswege für die Verbreitung von komprimierten Audiodateien verfügbar – die Voraussetzung für Musik-Tauschbörsen, wo nach dem Peer2Peer-Prinzip MP3-Dateien vom Heimrechner auf einem zentralen Server bereitgestellt und ausgetauscht werden konnten.
Vom legalen Weg abgekommen
Die Plattform Napster, die 1999 ans Netz ging, rüttelte die Musikindustrie gehörig durch. Ihre Nachfolger führten zum Einbruch der Musik-Verkaufszahlen und schliesslich zu einem juristischen Prozess, den die Musikindustrie zwei Jahre darauf gewann – Napster wurde geschlossen.
Nicht unterbunden werden konnte jedoch die neue Form des Musikkonsums, den MP3 und Napster erschlossen haben: Es waren nicht mehr die grossen Labels, die bestimmten, in welcher Form Musik erworben werden konnte (als Album oder als Single) und welche Musikstücke überhaupt verfügbar waren. Die vereinfachte Verbreitung von Musik als Audiodateien bot den Zugriff auf Einzelstücke, Raritäten, Vergriffenes. Doch das Gerichtsurteil gegen Napster, das zum Ende der Plattform führte, zwang als Präzedenzfall den Austausch von MP3-Dateien in die Illegalität und ermutigte die Musikindustrie zu einer Klagewelle, um die verlorenen Einkünfte zu kompensieren, anstatt das Filesharing-Konzept als eigene Vertriebsmöglichkeit zu entdecken.
Plattenregal für den Hosensack
Es war schliesslich auch kein grosser Musikverlag, sondern die Computerfirma Apple, die mit ihrer Wiedergabe-Software iTunes eine taugliche kommerzielle Plattform für die breite Nutzung von MP3-Dateien bereitstellte. Apple hat das Programm nicht erfunden. Es wurde von einem anderen Entwickler übernommen, aber auch um zentrale Funktionen wie die Playlisten erweitert – und vor allem wurde das populärste Trägermedium geschaffen: der iPod.
Mit diesem MP3-Player, mittlerweile durch die Smartphones bereits wieder abgelöst, wanderte eine Tausende Titel umfassende Plattensammlung endgültig in die Hosentasche. Die höhere Datenrate der Files von 256 Kilobit pro Sekunde nivellierten ausserdem den empfundenen Qualitätsunterschied zwischen CD und MP3, wie eine Studie des Computermagazins «c’t» im Jahr 2000 feststellte – bloss fünf Jahre, nachdem das Format vorgestellt wurde.
MP3 – und danach entwickelte, komprimierte Audioformate wie AAC – sind heute die zunehmend dominierende Form, wie Musik konsumiert wird. Den grossen Reibach haben Firmen wie Apple gemacht. Sie hatten die kommerziellen Potenziale erkannt. Aber auch für die Patentinhaber am Fraunhofer-Institut in Erlangen ist MP3 bis heute das mit Abstand erfolgreichste Produkt geblieben. Pro Jahr erhält das Institut Patenteinnahmen in der Höhe von zweistelligen Millionenbeträgen.